Anna Karenina
antwortete Ljewin und blickte dabei schüchtern und
zugleich ärgerlich und unruhig um sich.
»Na, komm mit in mein Arbeitszimmer!« sagte Stepan Arkadjewitsch, der die empfindliche, leicht reizbare
Schüchternheit seines Freundes kannte; er faßte ihn an der Hand und zog ihn mit sich, als ob er ihn durch drohende
Gefahren hindurchgeleiten wollte.
Stepan Arkadjewitsch stand mit fast allen seinen Bekannten auf du und du: mit alten Männern von sechzig Jahren
und mit jungen von zwanzig Jahren, mit Schauspielern, Ministern, Kaufleuten und Generaladjutanten, so daß sehr
viele seiner Duzfreunde sich an den beiden entgegengesetzten Enden der gesellschaftlichen Stufenleiter befanden und
sehr verwundert gewesen wären, zu erfahren, daß sie in Oblonski einen gemeinsamen Berührungspunkt hatten. Er duzte
sich mit allen, mit denen er Champagner getrunken hatte, und Champagner trank er mit all und jedem. Traf er nun in
Anwesenheit von Beamten, die ihm unterstellt waren, mit seinen ›kompromittierenden Duzfreunden‹, wie er im Scherze
viele seiner Freunde nannte, zusammen, so verstand er es mit dem ihm eigenen Takte, den unangenehmen Eindruck
abzuschwächen, den dies auf seine Untergebenen machen konnte. Ljewin gehörte nicht zu diesen kompromittierenden
Duzfreunden; aber Oblonski merkte mit dem feinen Gefühl, das er für solche Dinge besaß, daß Ljewin glaubte, er,
Oblonski, möge vor seinen Untergebenen nicht gern sein engeres Verhältnis zu ihm, Ljewin, bekunden; darum beeilte
sich Oblonski, ihn in sein Arbeitszimmer zu führen.
Ljewin war beinah gleichen Alters mit Oblonski, und seine Duzfreundschaft mit ihm stammte nicht etwa nur vom
Champagner her. Ljewin war schon in früher Jugend sein Kamerad und Freund gewesen. Sie mochten einander gern trotz
der Verschiedenheit der Charaktere und Neigungen, wie eben Freunde einander gern haben, die sich in früher Jugend
zusammengefunden haben. Aber trotzdem ging es auch bei ihnen, wie so oft bei Leuten, die sich für stark
verschiedene Arten von Tätigkeit entschieden haben: obgleich ein jeder von ihnen der Tätigkeit des anderen bei
genauerer Überlegung Gerechtigkeit widerfahren ließ, schätzte er sie doch im Grunde seiner Seele gering. Jedem
schien das Leben, das er selbst führte, das einzig wahre Leben zu sein und das des Freundes nur eine Karikatur des
Daseins. Oblonski konnte, sobald er Ljewin zu sehen bekam, ein leises, spöttisches Lächeln nicht unterdrücken. Wer
weiß wie oft hatte er ihn nun schon von seinem Gute, wo er sich irgendwelcher Tätigkeit hingab, nach Moskau kommen
sehen; aber was er dort eigentlich tat, das hatte Stepan Arkadjewitsch nie so recht begreifen können, und es
interessierte ihn auch nicht besonders. Wenn Ljewin nach Moskau kam, so war er immer stark aufgeregt, in großer
Hast, ein wenig befangen und eben infolge dieser Befangenheit sehr reizbar, und meistens hatte er sich inzwischen
irgendeine völlig neue, überraschende Anschauung über diesen oder jenen Gegenstand zu eigen gemacht. Stepan
Arkadjewitsch lachte über das Wesen seines Freundes, hatte es aber doch gern. Ganz ebenso verachtete auch Ljewin im
Grunde seiner Seele die städtische Lebensweise des anderen und seine dienstliche Tätigkeit, der er jeden Wert
absprach, und machte sich darüber lustig. Aber ein Unterschied bestand darin, daß Oblonski, der so lebte wie alle
anderen Menschen auch, wenn er über seinen Freund spottete, dies voll Selbstvertrauen und in gutmütiger Weise tat,
Ljewin dagegen ohne rechtes Selbstvertrauen und mitunter in aufgebrachtem Tone.
»Wir haben dich schon lange erwartet«, sagte Stepan Arkadjewitsch beim Eintritt in sein Zimmer und ließ nun
Ljewins Hand los, wie wenn er dadurch ausdrücken wollte, daß hier keine Gefahr mehr sei. »Ich bin sehr, sehr
erfreut, dich wiederzusehen«, fuhr er fort. »Nun, was machst du? Wie geht es dir? Wann bist du angekommen?«
Ljewin schwieg und richtete seine Blicke auf die ihm unbekannten Gesichter der beiden Kollegen Oblonskis und
namentlich auf die Hände des eleganten Grinjewitsch mit den langen, weißen Fingern, mit den langen, gelben, an den
Spitzen gekrümmten Nägeln und den riesigen, blitzenden Manschettenknöpfen. Diese Hände nahmen augenscheinlich
Ljewins ganze Aufmerksamkeit in Anspruch und ließen ihn an nichts anderes mehr denken. Oblonski bemerkte das sofort
und lächelte.
»Ach ja, gestatten Sie, daß ich Sie miteinander bekannt mache«, sagte er. »Meine
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