Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
PROLOG
Hurrikanzeit
Oktober 1949
D er Wind naht von Nordosten, feucht und für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm. Edwin Plank sieht, wie die Böen durch das dürre Gras und die letzten Maisstauden auf dem Feld bei der Scheune fegen.
In der kurzen Zeit, in der ein Mann sich eine Tasse Kaffee eingießen und seinen Hund hereinrufen kann (Sadie spürt das Unwetter aber schon und kommt angelaufen), verdunkelt sich der Himmel. Krähen und Stare kreisen über der Scheune und halten Ausschau nach schützenden Dachsparren. Es ist noch nicht einmal vier Uhr nachmittags, und bald wird die Zeit umgestellt, aber als die Wolkenwand heranrückt, wird es so düster, als ginge die Sonne schon unter. Vielleicht stoßen die Kühe deshalb ihre tiefen anklagenden Rufe aus. Tiere spüren immer, wenn etwas im Argen ist.
Edwin, der mit seinem Kaffee auf der Veranda steht, ruft nach Connie, seiner Frau. Sie ist im Garten und nimmt die Wäsche von der Leine, die sie heute Morgen aufgehängt hat. Mit vier Töchtern hat man immer viel Wäsche. Baumwollkleider, rosa Hemden und Höschen, Windeln – und Connies schlichte weiße Baumwollwäsche, über die man aber ihrer Ansicht nach am besten kein Wort verliert.
Während sie rasch die letzten, noch feuchten Teile von der Leine nimmt, bevor der Wind sie wegreißen kann, denkt Connie schon daran, dass womöglich wegen des Sturms der Strom ausfallen wird. Dann wird ihr Mann den Radiobericht über das Baseballspiel nicht hören können und sich wohl heute Abend im Bett wieder an sie heranmachen. Sie hatte gehofft, dass er mit dem Finale beschäftigt sein würde. Die Red Sox waren zwar wie üblich im September wieder ausgeschieden, aber das Finale versäumt Edwin trotzdem nie.
Sie wussten, dass der Hurrikan – den man »Bonnie« genannt hatte – kommen würde. (Edwin hat in den acht Jahren ihrer Ehe wohl nicht einmal den Wetterbericht versäumt.) In der Scheune hat Edwin schon nach dem Rechten gesehen, das Werkzeug aufgeräumt und dafür gesorgt, dass das Stroh abgedeckt ist und die Türen fest geschlossen sind. Die Kühe sind natürlich im Stall. Aber der Wetterhahn auf dem Dach – der sich dort schon seit hundertvierzig Jahren dreht, seit sechs Generationen von Planks – wirbelt nun so schnell herum wie ein Kreisel.
Der Regen setzt ein. Zunächst nur ein paar Tropfen, doch dann stürzen solche Fluten vom Himmel, dass Edwin nicht einmal mehr seinen Traktor sehen kann, den alten roten Massey Ferguson, der draußen auf dem Feld an der Stelle steht, an der er heute sein Tagewerk beendet hat. Der Regen macht einen solchen Radau, dass Edwin die Stimme erheben muss, um seine beiden älteren Töchter zu rufen – Naomi und Sarah. »Schaut nach euren Schwestern, Mädchen.« Die beiden Kleinen, Esther und Edwina, müssten demnächst aus ihrem Mittagsschlaf aufwachen, wenn sie bei dem Lärm nicht schon wach geworden sind.
Im Garten kämpft Connie mit dem Wäschekorb, Wind und Regen peitschen ihr ins Gesicht. Edwin stellt seinen Kaffee ab und läuft hinaus, um Connie den Korb abzunehmen. Sie ist schon völlig durchnässt, und ihr Kleid klebt an ihrem gedrungenen Körper. Sie hat so gar keine Ähnlichkeit mit den Frauen, an die Edwin manchmal denkt, an den Nachmittagen auf dem Traktor oder in den vielen Stunden, die er mit dem Melken der Kühe verbringt – Frauen wie Marilyn Monroe, Ava Gardner, Peggy Lee. Doch in diesem Moment, als Connies Brüste sich unter dem Stoff abzeichnen, denkt er, dass es ein schöner Abend werden wird, wenn die Kinder schlafen – denn das Baseballspiel wird wegen des Unwetters gewiss nicht stattfinden – und er mit seiner Frau im Bett liegen und dem Trommeln des Regens auf dem Dach lauschen kann. Eine gute Zeit für die Liebe – wenn Connie ihn dulden wird.
Sie reicht ihrem Mann den Wäschekorb. Den freien Arm legt er ihr um die Schultern, um sie zu stützen, als sie den Abhang hinaufsteigen, denn der Sturm peitscht ihnen mit voller Wucht entgegen. Edwin muss beinahe schreien, um das Getöse des Unwetters zu übertönen.
»Das ist ’n Prachtstück, wie’s ausschaut«, sagt er. »Wird uns wohl den Strom kosten.«
»Ich muss zu den Mädchen«, sagt Connie und schiebt Edwins Hand beiseite. »Die Kleine fürchtet sich bestimmt.« Sie meint Edwina, die Jüngste, die nach ihrem Mann benannt ist. Man hätte glauben können, dass Edwin enttäuscht sei, weil er keinen Jungen bekommen hatte, und ein bisschen stimmte das vielleicht auch, doch er liebt seine Töchter.
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