Anna Karenina
unterbrach Anna sie rasch. »Er ist in einem bedauernswerten Zustande, ganz gebrochen von Reue ...«
»Ist er denn überhaupt fähig zu bereuen?« unterbrach Dolly ihre Schwägerin und blickte ihr aufmerksam ins
Gesicht.
»Ja, ich kenne ihn. Ich habe ihn nicht ohne das tiefste Mitleid ansehen können. Wir kennen ihn ja alle beide. Er
ist von guter Gemütsart; aber er hat auch seinen Stolz, und jetzt fühlt er sich tief gedemütigt. Was mich am
meisten gerührt hat« (hier hatte Anna mit richtigem Empfinden herausgefühlt, welches Argument am ehesten Eindruck
auf Dolly machen konnte), »zwei Dinge sind es, die ihn heftig quälen: erstens, daß er sich vor den Kindern schämen
muß, und dann, daß er, der doch dich so liebt – ja, ja, er liebt dich über alles in der Welt –«, fügte sie schnell
hinzu, um Dolly, die etwas erwidern wollte, nicht zu Worte kommen zu lassen, »daß er dir solchen Schmerz angetan
und dir einen so schweren Schlag zugefügt hat. ›Nein, nein, sie wird mir nicht verzeihen‹, sagte er immer
wieder.«
Dolly blickte nachdenklich an der Schwägerin vorbei, während sie deren Worte anhörte.
»Ja, daß sein Zustand schrecklich ist, das verstehe ich«, sagte sie; »der Schuldige ist schlimmer daran als der
Unschuldige, – wenn er eben fühlt, daß das ganze Unglück durch seine Schuld gekommen ist. Aber wie kann ich ihm
verzeihen, wie kann ich wieder sein Weib sein, nachdem er mit jener Person in Beziehungen gestanden hat? Es würde
mir eine Qual sein, künftig mit ihm zusammen zu leben, eben deshalb, weil ich meine frühere Liebe zu ihm nicht aus
meinem Gedächtnisse tilgen kann.«
Ein Schluchzen unterbrach ihre Worte.
Aber wie mit Absicht begann sie jedesmal, wenn sie weich wurde, wieder von dem zu sprechen, was sie so schwer
gekränkt hatte.
»Sie ist ja jung und hübsch«, fuhr sie fort. »Aber verstehst du auch wohl, Anna, durch wen ich meine Jugend und
meine Schönheit verloren habe? Durch ihn und seine Kinder. Ich habe einen schweren Dienst bei ihm gehabt, und in
dieser Dienstzeit ist alles, was ich Gutes hatte, draufgegangen, und nun ist ihm natürlich dieses frische, wenn
auch gemeine Geschöpf angenehmer. Sie haben gewiß untereinander über mich gesprochen, oder sie haben, was noch
schlimmer wäre, mich mit Stillschweigen übergangen, – verstehst du wohl?«
Von neuem glühten ihr die Augen vor Haß.
»Und wenn er nun nach allem, was geschehen ist, mir später irgend etwas sagt, – werde ich ihm dann etwas glauben
können? Niemals. Nein, nun ist alles zu Ende, alles, was mir ein Trost, ein Lohn für alle meine Mühen und Leiden
war. – Kannst du das glauben: ich habe soeben Grigori unterrichtet; früher war mir das eine Freude, jetzt ist es
mir eine Qual. Wozu mühe ich mich ab und quäle mich? Was sollen mir die Kinder? Es ist entsetzlich, daß meine Seele
auf einmal so umgewandelt ist und ich statt Liebe und Zärtlichkeit nur Haß gegen ihn empfinde, jawohl, Haß. Ich
könnte ihn töten und ...«
»Dolly, liebste Dolly, ich kann dir das nachfühlen; aber martere dich nicht so! Du bist so erbittert und
aufgeregt, daß du vieles in einem falschen Lichte siehst.«
Dolly antwortete nicht, und einige Minuten lang schwiegen beide.
»Was soll ich tun? Ersinne du etwas, Anna! Hilf mir! Ich habe alles hin und her erwogen und sehe keinen
Ausweg.«
Einen Rettungsweg vermochte auch Anna nicht zu ersinnen; aber jedes Wort, jede Miene ihrer Schwägerin griff ihr
ans Herz.
»Ich will dir nur eines sagen«, begann Anna, »ich bin seine Schwester und kenne seinen Charakter; ich weiß, daß
er imstande ist, alles zu vergessen, alles« (sie machte eine Handbewegung vor ihrer Stirn), »daß er imstande ist,
sich haltlos hinreißen zu lassen, daß er aber dann auch wieder dem Gefühle tiefster Reue zugänglich ist. Er kann es
jetzt gar nicht verstehen und begreifen, wie er das überhaupt hat tun können, was er getan hat.«
»Nein doch, er begreift es und hat es immer begriffen!« unterbrach Dolly sie. »Aber ich, – du vergißt mich ja
ganz dabei, – ist mir denn leichter ums Herz?«
»Höre doch nur! Als er mit mir sprach, da hatte ich – das will ich dir offen gestehen – noch kein rechtes
Verständnis für die ganze Furchtbarkeit deiner Lage. Ich sah nur, wie es um ihn stand und daß euer Familienleben
zerstört war, und er jammerte mich. Aber nachdem ich nun mit dir gesprochen habe, sehe ich als Frau doch noch etwas
anderes; ich sehe deine
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