Anna Karenina
Dolly beinahe neidisch.
»Ich? – O ja«, versetzte Anna. »Mein Gott, da ist ja Tanja!« wandte sie sich dem kleinen Mädchen zu, das
hereingelaufen kam. »Sie ist ebenso alt wie mein Sergei«, fügte sie hinzu, nahm sie bei der Hand und küßte sie.
»Ein reizendes Kind, ganz reizend! Du mußt mir deine Kinderchen alle zeigen.«
Sie zählte sie auf und kannte nicht nur ihre Namen, sondern wußte auch ihr Alter nach Jahren und Monaten, und
welchen Charakter ein jedes besaß, und welche Krankheiten die einzelnen durchgemacht hatten. Gegen dieses
teilnehmende Interesse konnte Dolly ihr Herz nicht verschließen.
»Nun, dann wollen wir zu ihnen gehen«, sagte sie. »Mein Wasili schläft leider gerade.«
Nachdem sie die Kinder angesehen hatten, setzten sie sich, nun allein, im Wohnzimmer an den Kaffeetisch. Anna
fingerte am Präsentierbrett umher und schob es dann von sich weg.
»Dolly«, hob sie an, »er hat mit mir gesprochen.«
Dolly wandte die Augen mit kaltem Blicke zu Anna hin. Sie erwartete jetzt erheuchelte Teilnahmsbezeigungen; aber
Anna sagte nichts Derartiges.
»Dolly, liebe Dolly«, fuhr sie fort, »ich will weder ihn zu verteidigen noch dich zu trösten suchen; das ist
unmöglich. Ich will dir nur einfach sagen, daß du mir so leid tust, mein Herzchen, von ganzer Seele leid!«
Unter den dichten Wimpern ihrer glänzenden Augen drängten sich Tränen hervor. Sie rückte näher an ihre
Schwägerin heran und ergriff mit ihrer eigenen festen kleinen Hand die Dollys. Dolly rückte nicht von ihr weg; aber
ihr Gesicht verlor seinen starren Ausdruck nicht. Sie erwiderte:
»Mich zu trösten, ist unmöglich. Nach dem, was vorgefallen ist, ist alles verloren, alles zerstört!«
Aber sobald sie das gesagt hatte, wurde der Ausdruck ihres Gesichtes plötzlich weicher. Anna hob die dürre,
magere Hand Dollys in die Höhe, küßte sie und sagte:
»Aber Dolly, was ist nun zu tun, was ist nun zu tun? Wie verhält man sich am besten in dieser schrecklichen
Lage? Das ist's, was nun erwogen werden muß.«
»Es ist alles zu Ende; weiter kann ich nichts sagen«, antwortete Dolly. »Und, weißt du, das allerschlimmste ist,
daß ich ihn nicht verlassen kann, der Kinder wegen; ich bin gebunden. Aber mit ihm länger zusammenleben, das kann
ich auch nicht; es ist mir eine Qual, ihn zu sehen.«
»Dolly, liebe, gute Dolly, er hat es mir ja schon gesagt; aber ich möchte es doch auch von dir hören; bitte,
sage mir alles!«
Dolly blickte sie fragend an.
Aufrichtige Teilnahme und herzliche Liebe waren auf Annas Gesicht zu lesen.
»Nun gut!« sagte sie plötzlich. »Aber ich muß von vorn anfangen. Du weißt, wie ich heiratete. Bei der Art, in
der mich maman erzogen hatte, war ich nicht nur unschuldig geblieben, sondern geradezu dumm. Ich wußte von nichts.
Ich weiß, es heißt, daß die Männer ihren Frauen ihr Vorleben erzählen; aber Stiwa«, sie verbesserte sich, »Stepan
Arkadjewitsch hat mir nichts gesagt. Du wirst es kaum glauben, aber ich hatte bis auf die neueste Zeit gemeint, ich
wäre die einzige Frau, der er nähergetreten sei. So habe ich acht Jahre lang gelebt. Verstehe wohl: ich habe keine
Untreue geargwöhnt, ja ich habe so etwas geradezu für unmöglich gehalten. Und nun stelle dir vor, wie einem zumute
ist, wenn man in solchen Anschauungen dahinlebt und nun auf einmal solche entsetzliche, abscheuliche Dinge hören
muß. Verstehe wohl: wenn man sich in festem Glauben für eine glückliche Frau hält und dann auf einmal ...« Dolly
suchte ein Schluchzen zu unterdrücken, »... wenn man dann auf einmal einen Brief zu lesen bekommt – einen Brief von
ihm an seine Geliebte, unsere frühere Erzieherin. Nein, das ist zu furchtbar!« Sie zog eilig das Taschentuch heraus
und verbarg ihr Gesicht darin. »Ich könnte es noch begreifen, wenn er sich von einer augenblicklichen Leidenschaft
hätte hinreißen lassen«, fuhr sie nach kurzem Stillschweigen fort, »aber mich mit Vorbedacht, in listiger Weise zu
hintergehen – und mit wem! Daß er es fertigbringen konnte, mein Mann zu bleiben und gleichzeitig mit ihr ein
Verhältnis zu haben, das ist furchtbar! Du kannst es nicht begreifen.«
»Doch, ich begreife es! Ich begreife es, liebe Dolly, ich begreife es«, antwortete Anna und drückte ihr die
Hand.
»Und meinst du etwa, daß er für die ganze Furchtbarkeit meiner Lage Verständnis hat?« fuhr Dolly fort. »Nicht im
entferntesten! Er ist glücklich und zufrieden.«
»O nein!«
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