Anna Karenina
Michailowna für Sergei Iwanowitsch
und den Professor Wäsche geben, wie sie von der Bleiche kommt.‹ Der bloße Gedanke daran trieb ihr das Blut ins
Gesicht.
›Ja, ich werde das Nötige anordnen‹, sagte sie sich, und zu ihren früheren Gedanken zurückkehrend, erinnerte sie
sich, daß sie eine wichtige seelische Frage noch nicht bis zu Ende durchgedacht hatte, und sie suchte sich zu
besinnen, welche Frage es gewesen sei. ›Ja, über Konstantins Unglauben!‹ Sie lächelte, als ihr das wieder
einfiel.
›Nun ja, ungläubig! Mag er lieber immer ein solcher Ungläubiger bleiben, als ein Gläubiger von der Art werden,
wie es Madame Stahl war oder wie ich es damals im Auslande werden wollte. Nein, heucheln, das wird er niemals.‹
Dabei kam ihr lebhaft ins Gedächtnis, in welch schöner Weise sich unlängst Ljewins Herzensgüte geäußert hatte.
Vor vierzehn Tagen hatte Dolly einen reuigen Brief von Stepan Arkadjewitsch erhalten. Er hatte sie darin angefleht,
seine Ehre zu retten und ihr Gut zu verkaufen, um seine Schulden zu bezahlen. Dolly war in Verzweiflung gewesen und
hatte nicht gewußt, ob sie ihren Mann mehr haßte oder verachtete oder bedauerte; sie hatte beschlossen, sich
scheiden zu lassen, ihm seine Bitte abzuschlagen; aber es hatte dann doch damit geendet, daß sie einwilligte, einen
Teil ihres Gutes zu verkaufen. Und nun erinnerte sich Kitty, unwillkürlich vor Rührung lächelnd, wie verlegen sich
ihr Mann nach diesem Entschlusse Dollys benommen hatte, wie er mehrmals ungeschickten Anlauf zu dem Vorschlag, der
ihn beschäftigte, gemacht hatte und wie er schließlich (es war dies das einzige Mittel gewesen, das er hatte
ersinnen können, um Dolly zu helfen, ohne ihr Ehrgefühl zu verletzen) Kitty dazu angeregt hatte, den Teil des
Gutes, der ihr gehörte, ihrer Schwester zu überlassen, eine edle Tat, auf die sie selbst vorher gar nicht verfallen
war.
›Und er wäre ein Ungläubiger? Mit seinem Herzen, mit dieser Furcht, irgend jemandem, und wäre es auch nur ein
Kind, wehe zu tun! Alles für andere, nichts für sich. Sergei Iwanowitsch ist geradezu der Ansicht, das sei
Konstantins Pflicht, für ihn die Verwaltung des Gutes zu führen. Und ebenso Konstantins Schwester. Jetzt hat sich
Dolly mit ihren Kindern unter seine Obhut gestellt. Und alle die Bauern, die Tag für Tag zu ihm kommen, als ob er
verpflichtet wäre, ihnen allerlei Dienste zu erweisen!‹
»Ja, werde du nur so, wie dein Vater ist; so werde du nur«, murmelte sie vor sich hin, indem sie den kleinen
Dmitri der Kinderfrau hingab und mit den Lippen sein Bäckchen berührte.
8
Von dem Augenblick an, wo Ljewin beim Anblick seines lieben, todkranken Bruders zum ersten Male die Fragen des
Lebens und Todes durch die Brille jener neuen, wie er es nannte, Überzeugungen betrachtet hatte, die, ohne daß er
sich dessen selbst bewußt geworden war, während der Zeit zwischen seinem zwanzigsten und seinem vierunddreißigsten
Lebensjahre in seiner Seele den Platz ausgefüllt hatten, den in seiner Kindheit und in seinem Jünglingsalter der
Glaube eingenommen hatte, von diesem Augenblick an empfand er eine entsetzliche Furcht nicht so sehr vor dem Tode
wie vor einem Leben, bei dem er nicht die geringste Kenntnis davon hatte, woher es stamme, wozu und warum es da sei
und was es eigentlich sei. Der Organismus, seine Vernichtung, die Unzerstörbarkeit der Materie, das Gesetz der
Erhaltung der Kraft, die Entwicklung: das waren die Worte, die bei ihm an die Stelle des früheren Glaubens getreten
waren. Diese Worte und die damit verbundenen Begriffe waren ja für die Zwecke verstandesmäßigen Denkens gut und
nützlich; aber für das praktische Leben halfen sie ihm nichts, und Ljewin hatte eine ähnliche Empfindung, als wenn
jemand einen warmen Pelz gegen einen Anzug aus Musselin hingäbe und nun zum erstenmal bei starker Kälte in
unzweifelhafter Weise, nicht durch Überlegung, sondern durch das Gefühl an seinem ganzen Leibe, zu der Überzeugung
käme, daß er so gut wie nackt sei und mit Notwendigkeit kläglich umkommen müsse.
Von jenem Augenblick an empfand Ljewin, obwohl er sich keine klare Rechenschaft davon gab und in seiner früheren
Weise weiterlebte, unausgesetzt diese Angst wegen seiner Unwissenheit.
Außerdem hatte er die dunkle Empfindung, daß das, was er seine Überzeugungen nannte, nicht nur ein Zustand der
Unwissenheit, sondern auch eine Geistesverfassung sei, die es ihm unmöglich mache, zur
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