Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Verbesserungen desjenigen Zustandes der Dinge, der in Europa vorhanden war, mit dem aber der Betrieb der Landwirtschaft in Rußland nichts gemein hatte. Die Nationalökonomie behauptete, die Gesetze, nach denen sich der Wohlstand Europas entwickelt habe und noch jetzt entwickle, seien allgemeingültig und zweifellos richtig. Die sozialistische Lehre behauptete, eine Weiterentwicklung nach diesen Gesetzen werde zum Untergange führen. Aber weder bei den Nationalökonomen noch bei den Sozialisten war eine Antwort oder auch nur ein Schatten von Antwort auf die Frage zu finden, was er, Ljewin, und alle russischen Bauern und Landbesitzer mit ihren Millionen von Händen und Deßjatinen anfangen müßten, damit diese dem allgemeinen Wohlstande die größtmögliche Förderung brächten.
Da er diese Sache nun einmal in Angriff genommen hatte, so las er gewissenhaft alles durch, was sich auf diesen Gegenstand bezog, und faßte den Plan, im Herbste ins Ausland zu reisen, um diese Frage auch noch an Ort und Stelle zu studieren, damit es ihm auf diesem Gebiete nicht mehr so gehen könne, wie es ihm schon so oft auf verschiedenen anderen Gebieten ergangen war. Denn kaum hatte er manchmal im Gespräche die Ansicht dessen, mit dem er sich unterhielt, erfaßt und seine eigene Ansicht darzulegen begonnen, so wurde ihm sofort vorgehalten: »Aber Kaufmann und Jones und Dubois und Miceli? Die haben Sie offenbar nicht gelesen. Lesen Sie die; die haben diese Frage gründlich behandelt.«
Er sah jetzt klar, daß bei Kaufmann und Miceli nichts zu finden war, was er gebrauchen konnte. Er wußte, was er wollte. Er sah, daß Rußland gutes Land und gute Arbeiter besaß und daß in manchen Fällen, wie bei dem alten Bauern auf der Hälfte des Weges, die Arbeiter und das Land etwas Tüchtiges hervorbrachten, in den meisten Fällen aber, wo in europäischer Art Kapital angelegt war, nur wenig erzeugt wurde und daß dies lediglich daher kam, daß die Arbeiter nur auf ihre eigene Art arbeiten wollten und auch nur dann gut arbeiteten, und daß dieses Widerstreben nicht nur gelegentlich, sondern dauernd war und seine Grundlagen im Volksgeiste hatte. Er glaubte, daß das russische Volk, das den Beruf habe, ungeheure noch leerstehende Landstrecken zu besiedeln und zu bebauen, so lange, bis alles Land in Benutzung genommen sei, an der dafür notwendigen Art der Bewirtschaftung mit bewußter Absicht festhalten werde und daß diese Art der Bewirtschaftung ganz und gar nicht so schlecht sei, wie man gewöhnlich annehme. Das beabsichtigte er zu beweisen, theoretisch in seinem Buche und praktisch in seiner Wirtschaft.
30
E nde September war das Holz für den Bau des Viehhofes auf dem der Arbeitsgenossenschaft überlassenen Stück Land angefahren; die Butter war verkauft und der Gewinn verteilt. In der Wirtschaft, in der Praxis, ging die Sache ausgezeichnet, oder wenigstens schien es Ljewin so. Um aber die ganze Sache theoretisch klarlegen und seine Abhandlung abschließen zu können, die, Ljewins kühnen Hoffnungen zufolge, bestimmt war, nicht nur einen Umschwung in der Nationalökonomie herbeizuführen, sondern diese Wissenschaft vollständig zu beseitigen und den Grund zu einer neuen Wissenschaft zu legen, über das Verhältnis des Volkes zum Erdboden: dazu brauchte er nur ins Ausland zu reisen und an Ort und Stelle alles, was dort nach dieser Richtung hin geschehen war, zu studieren und den zwingenden Beweis zu führen, daß alles, was dort geschehen war, nicht das Richtige und Nötige sei. Ljewin wartete nur, bis er den Weizen werde abgeliefert und das Geld dafür empfangen haben, um ins Ausland zu reisen. Aber es trat andauernder Regen ein, der es nicht nur unmöglich machte, die Kartoffeln, und was noch von Korn auf dem Felde stand, einzubringen, sondern überhaupt alle landwirtschaftlichen Arbeiten hemmte, ja selbst die Ablieferung des Weizens. Auf den Wegen war ein unergründlicher Schmutz; zwei Mühlen wurden durch plötzlich eintretendes Hochwasser weggerissen, und das Wetter wurde noch von Tag zu Tag schlechter.
Am 30. September ließ sich frühmorgens die Sonne wieder ein klein wenig blicken, und in der Hoffnung auf gutes Wetter traf nun Ljewin die endgültigen Vorbereitungen zur Abreise. Er ließ den Weizen aufschütten, schickte den Verwalter zum Händler, um das Geld in Empfang zu nehmen, und ritt selbst auf seinem ganzen Gebiete umher, um vor seiner Abreise die letzten Anordnungen zu treffen.
Nachdem Ljewin alle
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