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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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Wronski einfach »Alexei« anredete und erwähnte, sie siedelten beide in ein Haus, hier Palazzo genannt, über, das sie soeben gemietet hätten. Dieses offene, schlichte Benehmen in ihrer Lage gefiel Golenischtschew. Wenn er jetzt Annas gutmütig heiteres, frisches Wesen sah, so glaubte er, der sowohl Alexei Alexandrowitsch wie auch Wronski kannte, vollständig zu verstehen, wie sie so hatte handeln können. Er meinte zu begreifen, was übrigens sie selbst durchaus nicht zu begreifen vermochte: nämlich wie es nur möglich war, daß sie, nachdem sie ihren Mann unglücklich gemacht, ihn und ihren Sohn verlassen und ihren guten Ruf eingebüßt hatte, sich nun doch frisch und munter und glücklich fühlte.
     
    »Er ist auch im Reiseführer genannt«, bemerkte Golenischtschew über jenen Palazzo, den Wronski gemietet hatte. »Es ist da ein schönes Bild von Tintoretto; aus seiner letzten Periode.«
     
    »Wissen Sie was? Es ist prächtiges Wetter, wir wollen hingehen und ihn uns noch einmal ansehen«, sagte Wronski, zu Anna gewendet.
     
    »Sehr gern; ich will gleich gehen und mir den Hut aufsetzen. Ist es sehr heiß draußen?« sagte sie, indem sie an der Tür stehenblieb und Wronski fragend anblickte. Und wieder überzog eine dunkle Röte ihr Gesicht.
     
    Wronski merkte an ihrem Blick, daß sie nicht recht wußte, auf welchem Fuß er mit Golenischtschew zu verkehren beabsichtigte, und daß sie daher im Zweifel war, ob sie sich auch so benommen habe, wie es seinen Wünschen entspräche.
     
    Er sah sie mit einem langen, zärtlichen Blicke an.
     
    »Nein, es ist nicht besonders heiß«, antwortete er.
     
    Sie glaubte die Bedeutung dieses Blickes zu verstehen, namentlich auch, daß er mit ihr zufrieden sei; ihm zulächelnd, ging sie raschen Schrittes zur Tür hinaus.
     
    Die Freunde blickten einander an, und auf den Gesichtern beider malte sich eine gewisse Verlegenheit, wie wenn Golenischtschew, auf den sie offenbar einen vorzüglichen Eindruck gemacht hatte, etwas über sie sagen wollte und nichts Passendes fand, Wronski aber eine Äußerung von dem anderen wünschte und zugleich fürchtete.
     
    »Nun sieh einmal an«, begann Wronski, um irgendein Gespräch in Gang zu bringen. »Also du hast dich hier niedergelassen? Und du beschäftigst dich immer noch mit demselben Gegenstand?« fuhr er fort, da er sich erinnerte, daß ihm jemand gesagt hatte, Golenischtschew schreibe etwas.
     
    »Ja, ich schreibe an dem zweiten Teil meiner ›Zwei Prinzipien‹«, erwiderte Golenischtschew, der bei dieser Frage vor Vergnügen ganz rot wurde, »das heißt, genau gesagt, ich schreibe noch nicht, sondern mache Vorarbeiten, sammle Stoff. Dieser Teil wird weit umfangreicher werden und fast alle Fragen dieses Gebietes behandeln. Bei uns in Rußland will man nicht begreifen, daß wir die Erben von Byzanz sind«, begann er in erregtem Ton eine längere Darlegung.
     
    Wronski fühlte sich anfangs etwas unbehaglich, weil er den ersten Teil der »Zwei Prinzipien« nicht gelesen hatte, von dem der Verfasser mit ihm wie von etwas Bekanntem sprach. Aber als dann Golenischtschew seine Ideen auseinanderzusetzen begann und Wronski ihnen zu folgen vermochte, da hörte er, auch ohne die »Zwei Prinzipien« zu kennen, mit Teilnahme zu, zumal Golenischtschew wirklich gut sprach. Aber mit Erstaunen und Bedauern erfüllte ihn die gereizte, erregte Stimmung, in die Golenischtschew geriet, während er über den Gegenstand, der ihn beschäftigte, diese Mitteilungen machte. Je länger er sprach, um so mehr glühten seine Augen, um so eifriger entgegnete er seinen angenommenen Gegnern und um so unruhiger und erbitterter wurde sein Gesichtsausdruck. Wronski hatte noch recht wohl in der Erinnerung, was für ein schmächtiger, lebhafter, gutmütiger, vornehm denkender Knabe Golenischtschew gewesen war, wie er im Pagenkorps immer den ersten Platz in seiner Abteilung innegehabt hatte, und er konnte den Grund dieser Gereiztheit nicht verstehen und hielt sie für einen Fehler. Besonders mißfiel es ihm, daß Golenischtschew, ein Mann von gutem Stande, sich mit irgendwelchen Literaten, die ihn angriffen, auf eine Stufe stellte und sich über sie ärgerte. War denn die Sache das wert? Das mißfiel Wronski, aber trotzdem bedauerte er Golenischtschew auch, da er fühlte, daß dieser unglücklich sei. Ein inneres Leid, beinah etwas wie Geistesstörung, gab sich auf diesem beweglichen, ganz hübschen Gesicht zu erkennen, als er, ohne Annas Eintritt überhaupt zu

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