Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Metrows Auffassung bestand, das begriff Ljewin nicht, weil er sich keine Mühe gab, es zu begreifen. Er sah, daß Metrow, ganz wie die andern, trotz seiner Abhandlung, in der er die Volkswirtschaftler bekämpft hatte, die Lage des russischen Arbeiters dennoch nur vom Gesichtspunkte des Kapitals, des Arbeitslohnes und der Rente betrachtete. Obgleich er zugeben mußte, daß im östlichen, größten Teile Rußlands die Rente noch gleich Null sei, daß der Arbeitslohn für neun Zehntel der sich auf achtzig Millionen belaufenden Bevölkerung Rußlands nur im eigenen Lebensunterhalt bestehe und daß ein Kapital bisher nur in Gestalt der einfachsten Arbeitsgeräte vorhanden sei, so betrachtete er dennoch jeden Arbeiter nur von diesem Gesichtspunkte aus. In vielen Punkten allerdings stimmte er mit den Volkswirtschaftlern nicht überein, und über den Arbeitslohn hatte er eine eigene Auffassung, die er nun Ljewin auseinandersetzte.
Ljewin hörte ihm nur ungern zu und versuchte anfangs einige Einwendungen vorzubringen. Er hätte gern Metrow unterbrochen, um ihm seine Gedanken zu entwickeln, durch die seiner Ansicht nach jede weitere Auseinandersetzung überflüssig gemacht wurde. Als er sich dann aber überzeugt hatte, daß sie beide für die Sache eine so verschiedene Anschauungsweise hatten, daß sie einander doch nie würden verstehen können, da widersprach er nicht mehr und hörte nur noch zu. Und obwohl das, was Metrow sagte, ihn nun gar nicht mehr beschäftigte, empfand er doch beim Zuhören eine gewisse Befriedigung. Seine Eitelkeit fühlte sich dadurch geschmeichelt, daß ein solcher Gelehrter so bereitwillig, mit solcher Sorgfalt und mit solchem Vertrauen auf seine, Ljewins, Sachkenntnis (mitunter wies er durch eine bloße Andeutung auf ein ganzes großes Gebiet dieses Gegenstandes hin) ihm seine Gedanken auseinandersetzte. Ljewin führte dies darauf zurück, daß Metrow ihn als eine wertvolle Persönlichkeit betrachte; er wußte eben nicht, daß er schon mit allen ihm Näherstehenden diesen Gegenstand zur Genüge besprochen hatte und nun jedesmal einen besonderen Genuß darin fand, wenn er mit einer neuen Persönlichkeit darüber reden konnte, und daß er überhaupt gern mit allen Leuten redete, auch über solche ihn beschäftigende Gegenstände, die ihm selbst unklar waren.
»Aber wir werden zu spät kommen«, sagte Katawasow nach einem Blick auf die Uhr, sobald Metrow seine Auseinandersetzung beendet hatte.
»Es findet heute in der Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft eine Festsitzung aus Anlaß von Swintitschs fünfzigjährigem Jubiläum statt«, erwiderte Katawasow auf eine Frage Ljewins. »Peter Iwanowitsch und ich wollen auch hin. Ich habe versprochen, über Swintitschs zoologische Arbeiten zu sprechen. Kommen Sie mit; es wird sehr interessant sein.«
»Ja, es ist wirklich Zeit«, sagte Metrow. »Kommen Sie doch mit und von dort zu mir, wenn es Ihnen recht ist. Ich würde sehr gern Ihre Arbeit ganz kennenlernen.«
»Ach, nicht doch. Sie ist noch recht unschön; ich bin ja noch gar nicht fertig. Aber in die Sitzung werde ich sehr gern mitkommen.«
»Haben Sie schon gehört, Verehrtester? Ich habe ein Sondergutachten eingereicht«, sagte Katawasow, während er sich im Nebenzimmer den Frack anzog, zu Metrow.
Damit begann ein Gespräch über die Universitätsfrage.
Die Universitätsfrage war in diesem Winter in Moskau ein sehr wichtiges Ereignis. Drei ältere Professoren hatten im Senat ein Gutachten einiger jüngerer Professoren zurückgewiesen; die jüngeren hatten darauf ein gesondertes Gutachten eingereicht. Dieses Gutachten war nach dem Urteile der einen ganz abscheulich, nach dem Urteile anderer durchaus schlicht und gerecht; so hatten sich die Professoren in zwei Parteien gespalten.
Die einen, zu denen Katawasow gehörte, sahen bei der Gegenpartei nur gemeine Verleumdung und Betrug, die anderen hingegen beschuldigten ihre Gegner eines Bubenstreiches und der Mißachtung aller Autorität. Obwohl Ljewin mit der Universität in keiner Beziehung stand, hatte er doch schon mehrmals während seiner Anwesenheit in Moskau von dieser Sache gehört und darüber gesprochen und hatte sich eine eigene Meinung gebildet; so beteiligte er sich denn an dem Gespräch, das auch noch auf der Straße fortgesetzt wurde, bis alle drei beim alten Universitätsgebäude anlangten.
Die Sitzung hatte bereits begonnen. An dem mit einer Decke behangenen Tisch, wo Katawasow und Metrow
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