Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Platz nahmen, saßen sechs Herren, von denen einer, sich tief über sein Manuskript beugend, etwas vorlas. Ljewin setzte sich in den Stuhlreihen, die in einiger Entfernung um den Tisch herumstanden, auf einen freien Stuhl und fragte einen neben ihm sitzenden Studenten flüsternd, was da vorgelesen werde. Der Student blickte Ljewin unwillig an und antwortete: »Die Biographie.«
Obgleich Ljewin für die Biographie jenes Gelehrten kein besonderes Interesse hatte, so hörte er doch unwillkürlich zu und erfuhr einiges Wissenswertes und Neues aus dem Leben des berühmten Mannes.
Als der Vortragende geendet hatte, dankte ihm der Vorsitzende und las dann seinerseits ein ihm von dem Dichter Ment zugesandtes Gedicht vor, das dieser auf das Jubiläum verfaßt hatte, und fügte einige Worte des Dankes für den Dichter hinzu. Darauf las Katawasow mit seiner lauten, schreienden Stimme seinen Bericht über die wissenschaftlichen Arbeiten des Jubilars vor.
Als Katawasow damit fertig war, blickte Ljewin auf die Uhr, sah, daß es schon zwischen eins und zwei war, und sagte sich, daß er vor dein Konzerte keine Zeit mehr haben werde, dem Professor Metrow seine Schrift vorzulesen; auch hatte er jetzt gar keine Lust mehr dazu. Er hatte während der Vorträge auch noch an das vorangegangene Gespräch gedacht. Er war sich jetzt darüber klar, daß, obgleich Metrows Gedanken vielleicht einen gewissen Wert besäßen und die seinigen gleichfalls, diese Gedanken jedoch nur dann sich klarer gestalten und zu einem Ergebnis führen ließen, wenn ein jeder für sich in der von ihm gewählten Richtung weiterarbeite, daß aber bei einem wechselseitigen Austausch dieser Gedanken nichts herauskomme. Ljewin entschloß sich daher, Metrows Einladung abzulehnen, und trat bei Schluß der Sitzung zu ihm heran. Metrow machte Ljewin mit dem Vorsitzenden bekannt, mit dem er sich gerade über das neueste politische Ereignis unterhielt. Dabei erzählte Metrow dem Vorsitzenden dasselbe, was er vorher Ljewin erzählt hatte, und Ljewin machte dazu dieselben Bemerkungen, die er schon damals gemacht hatte, nur daß er zur Abwechselung eine neue Ansicht, die ihm jetzt gerade einfiel, als die seinige vorbrachte. Hierauf ging das Gespräch wieder zur Universitätsfrage über. Da Ljewin das alles schon einmal gehört hatte, so beeilte er sich, Metrow zu sagen, er bedaure, seiner Einladung nicht Folge leisten zu können, empfahl sich und fuhr zu Lwow.
4
L wow, der Kittys Schwester Natalja zur Frau hatte, hatte sein ganzes Leben in Residenzstädten und großenteils im Auslande zugebracht, wo er auch seine Erziehung genossen hatte und im diplomatischen Dienst tätig gewesen war.
Im vorigen Jahre war er aus dem diplomatischen Dienst ausgetreten (nicht etwa, weil er Unannehmlichkeiten gehabt hätte; die hatte er nie mit jemand) und hatte ein Amt bei der Hofbehörde in Moskau übernommen, um seinen beiden Knaben eine recht gute Erziehung zuwenden zu können.
Trotz des schärfsten Gegensatzes in ihren Gewohnheiten und Anschauungen und obwohl Lwow älter war als Ljewin, waren sie in diesem Winter einander nähergetreten und hatten aneinander Gefallen gefunden.
Lwow war zu Hause, und Ljewin trat ohne Anmeldung bei ihm ein.
Lwow trug einen Hausrock mit Gürtel und sämischlederne Schuhe, saß auf einem Lehnstuhl und las durch einen Kneifer mit blauen Gläsern ein Buch, das auf einem Lesepult stand; in der vorsichtig vom Körper weggestreckten schönen Hand hielt er eine zur Hälfte in Asche verwandelte Zigarre.
Auf seinem schönen, feinen, noch, jugendlichen Gesicht, dem das lockige, silbern glänzende Haar noch mehr den Ausdruck des Rassigen verlieh, strahlte ein freundliches Lächeln auf, als er Ljewin erblickte.
»Vortrefflich! Ich wollte soeben zu Ihnen schicken. Nun, was macht Kitty? Setzen Sie sich hierher; hier haben Sie es bequemer ...« Er stand auf und zog einen Schaukelstuhl heran. »Haben Sie das letzte Rundschreiben im Journal de Saint-Pétersbourg gelesen? Ich finde es ausgezeichnet«, sagte er mit französischem Tonfall.
Ljewin erzählte, was er von Katawasow über die in Petersburg herrschende Auffassung der Lage gehört hatte, und nachdem sie so ein Weilchen von Politik gesprochen hatten, berichtete er ihm von seiner Bekanntschaft mit Metrow und von seinem Besuch der Sitzung. Dies interessierte Lwow in hohem Grade.
»Ja, sehen Sie, ich beneide Sie geradezu darum, daß Sie zu dieser interessanten
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