Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Sie ein schlechter Staatsbürger sind, und habe Sie verteidigt, so gut ich es verstand.«
»Wie haben Sie mich denn verteidigt?«
»Entsprechend der Art, wie Sie angegriffen wurden. Aber ist Ihnen nicht Tee gefällig?« Sie stand auf und nahm ein in Saffian gebundenes Buch in die Hand.
»Geben Sie es mir, Anna Arkadjewna«, sagte Workujew, auf das Buch zeigend. »Es verdient durchaus, gedruckt zu werden.«
»O nicht doch, es ist alles noch so unfertig.«
»Ich habe ihm schon davon erzählt«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch, zu seiner Schwester gewendet, indem er auf Ljewin zeigte.
»Daran hast du unrecht getan. Meine Schriftstellerei steht ungefähr auf gleicher Stufe mit jenen in den Gefängnissen gearbeiteten Körbchen und Schnitzereien, die Lisa Merkalowa früher manchmal an mich verkaufte. Sie war ein sehr tätiges Mitglied eines Vereins für das Wohl der Gefangenen«, bemerkte sie, zu Ljewin gewendet. »Diese Unglücklichen schufen wahre Wunderwerke der Geduld.«
Und Ljewin nahm noch einen neuen Zug in dem Charakter dieser Frau wahr, die ihm so außerordentlich gefiel. Außer Verstand, Anmut und Schönheit besaß sie auch Wahrheitsliebe. Sie machte keinen Versuch, ihm das Peinliche ihrer Lage zu verbergen. Nach jener Bemerkung über die Gefängnisarbeit seufzte sie auf, und ihr Gesicht, das plötzlich einen ernsten, strengen Ausdruck annahm, schien zu Stein zu werden. Mit diesem Ausdruck auf dem Gesicht war sie noch schöner als vorher; aber dieser Ausdruck war ein ganz neuer und hatte nichts gemein mit dem glückstrahlenden, beglückenden Ausdruck, den der Künstler auf dem Bildnis zur Darstellung gebracht hatte. Ljewin betrachtete gerade noch einmal vergleichend das Bild und ihre Gestalt, als sie den Arm ihres Bruders nahm und mit ihm durch die hohe Tür schritt, und er empfand für sie ein zärtliches Mitleid, das ihn selbst in Erstaunen setzte.
Sie forderte Ljewin und Workujew auf, nach dem Besuchszimmer weiterzugehen, während sie selbst mit ihrem Bruder in einem anderen Zimmer zurückblieb, um mit ihm zu sprechen. ›Worüber?‹ dachte Ljewin. ›Über die Scheidung? Über das, was Wronski im Klub tat? Über mich?‹ Und die Frage, was sie wohl mit Stepan Arkadjewitsch besprechen wollte, regte ihn dermaßen auf, daß er kaum auf das hörte, was ihm Workujew von den Vorzügen des Romans für Kinder auseinandersetzte, den Anna verfaßt hatte.
Beim Tee wurde das angenehme, inhaltreiche Gespräch in gleicher Weise fortgesetzt. Nie trat ein Augenblick ein, wo erst nach einem Gesprächsstoffe hätte gesucht werden müssen; sondern es hatte im Gegenteil ein jeder die Empfindung, daß er nicht Zeit fand, alles, was er wollte, auszusprechen, und ein jeder hielt sich gern zurück, um zu hören, was ein anderer sagte. Und alles, was gesprochen wurde, nicht nur von ihr selbst, sondern auch von Workujew und von Stepan Arkadjewitsch, alles erhielt, wie es Ljewin vorkam, durch die Aufmerksamkeit, die sie bekundete, und durch die Bemerkungen, die sie hinzugab, einen bedeutsamen Inhalt.
Während Ljewin dem Gespräch folgte, bewunderte er ununterbrochen sie und ihre Schönheit, ihren Verstand und ihre Bildung, ihre Natürlichkeit und Herzlichkeit. Er hörte zu, er redete und dachte die ganze Zeit über an sie, an ihr inneres Leben, und bemühte sich, ihre Empfindungen zu erraten. Und während er sie früher so streng verurteilt hatte, sprach er sie jetzt infolge eines seltsamen Gedankenganges frei, zugleich bedauerte er sie und fürchtete, daß Wronski für ihr Wesen kein volles Verständnis besitze. Als nach zehn Uhr Stepan Arkadjewitsch aufstand, um wegzufahren (Workujew hatte sich schon früher empfohlen), war es Ljewin, als wären sie eben erst gekommen. Mit Bedauern erhob er sich gleichfalls.
»Leben Sie wohl«, sagte sie, indem sie seine Hand festhielt und ihm mit einem Blicke, von dem er sich unwiderstehlich angezogen fühlte, in die Augen sah. »Ich freue mich sehr, que la glace est rompue. 4 «
Sie ließ seine Hand los und kniff die Augen zusammen.
»Sagen Sie Ihrer Frau, daß ich sie noch ebenso liebhabe wie früher und daß, wenn sie mir meine Lage nicht verzeihen kann, ich ihr wünsche, daß sie mir niemals verzeihen möge. Denn um mir zu verzeihen, muß man das durchgemacht haben, was ich durchgemacht habe, und davor behüte sie Gott!«
»Ich will es ihr sagen, ja, gewiß ...«, erwiderte Ljewin errötend.
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1 (engl.) Lassen Sie bitte
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