Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
die Zündhölzer, die Uhr mit doppelter Kette und Berlocken, schüttelte das Taschentuch auseinander und fühlte sich nun sauber, wohlduftend, gesund und körperlich munter, trotz seinem Unglück. Auf jedem Bein sich ein wenig hin und her wiegend, ging er in das Eßzimmer, wo der Kaffee bereits auf ihn wartete und neben dem Kaffeegeschirr seine Briefe und die von der Behörde eingelaufenen Akten lagen.
Er las die Briefe. Einer darunter war ihm recht unwillkommen – von dem Händler, mit dem er wegen des Verkaufes eines Waldes auf dem Gute seiner Frau in Unterhandlung stand. Er mußte diesen Wald unbedingt verkaufen; aber jetzt, vor einer Versöhnung mit seiner Frau, konnte davon nicht die Rede sein. Am peinlichsten war ihm dabei, daß sich auf diese Weise Geldfragen in das bevorstehende Werk seiner Versöhnung mit seiner Frau hineinmischten. Und der Gedanke, daß es scheinen könnte, als lasse er sich von diesem Interesse leiten und als veranlasse ihn die Aussicht auf den Verkauf dieses Waldes, die Versöhnung mit seiner Frau anzustreben, dieser Gedanke hatte für ihn geradezu etwas Beleidigendes.
Als Stepan Arkadjewitsch mit den Briefen fertig war, zog er die Akten zu sich heran, durchblätterte schnell zwei Sachen und machte darin mit einem großen Bleistift ein paar Bemerkungen. Darauf schob er die Akten wieder zur Seite und machte sich an seinen Kaffee; während des Kaffeetrinkens breitete er die noch feuchte Morgenzeitung auseinander und begann sie zu lesen.
Stepan Arkadjewitsch hielt und las eine liberale Zeitung, nicht ein extremes Blatt, sondern von der Richtung, zu der sich die Mehrheit des gebildeten Publikums bekannte. Und obgleich weder Wissenschaft noch Kunst, noch Politik ihn sonderlich interessierten, so hielt er doch auf allen diesen Gebieten energisch an den Anschauungen fest, denen die Mehrheit und seine Zeitung anhingen, und änderte diese Anschauungen nur dann, wenn auch die Mehrheit das gleiche tat, oder, richtiger gesagt, er änderte sie nicht, sondern sie änderten sich von selbst unvermerkt in seinem Geiste.
Stepan Arkadjewitsch wählte sich weder seine Grundsätze noch seine Ansichten aus, sondern diese Grundsätze und Ansichten kamen von selbst zu ihm, ganz ebenso, wie er die Formen seines Hutes oder seines Rockes nicht auswählte, sondern einfach die nahm, die allgemein getragen wurden. Und Ansichten zu haben, war für ihn, der in einem bestimmten gesellschaftlichen Kreise lebte und ein Verlangen nach einiger Denktätigkeit verspürte, wie es sich gewöhnlich in reiferen Lebensjahren herausbildet, – Ansichten zu haben, war für ihn ebenso eine Notwendigkeit, wie einen Hut zu haben. Wenn wirklich ein Grund vorhanden war, weshalb er die liberale Richtung der konservativen vorzog, der doch auch viele aus seinem Gesellschaftskreise anhingen, so lag dieser Grund jedenfalls nicht etwa darin, daß er die liberale Richtung für vernünftiger gehalten hätte, sondern darin, daß sie mit der Gestaltung seines eigenen Lebens mehr übereinstimmte. Die liberale Partei behauptete, in Rußland sei alles schlecht, und tatsächlich hatte Stepan Arkadjewitsch viele Schulden und konnte mit seinem Gelde absolut nicht auskommen. Die liberale Partei erklärte die Ehe für eine Einrichtung, die sich überlebt habe und unbedingt umgestaltet werden müsse, und wirklich machte das Eheleben Stepan Arkadjewitsch wenig Vergnügen und nötigte ihn dazu, zu lügen und sich zu verstellen, was doch seiner Natur sehr zuwider war. Die liberale Partei sagte oder, richtiger ausgedrückt, ließ als ihre Meinung durchblicken, daß die Religion nur ein Zügel für den ungebildeten Teil der Bevölkerung sei, und in der Tat vermochte Stepan Arkadjewitsch nicht einmal einen ganz kurzen Gottesdienst ohne Schmerzen in den Beinen auszuhalten und konnte gar nicht begreifen, was dieses ganze großartige, hochtrabende Gerede von jener Welt für einen Zweck habe, da es sich doch auch auf dieser Welt sehr vergnüglich leben lasse. Außerdem fand Stepan Arkadjewitsch, der ein munteres Späßchen liebte, seine Freude daran, ab und zu einen harmlosen Menschen durch Äußerungen wie diese zu verblüffen: wolle man den Stolz auf die Abstammung einmal gelten lassen, so sei es nicht recht, bei Rurik stehenzubleiben und den ersten Stammvater, den Affen, zu verleugnen. Auf diese Weise war die liberale Richtung für Stepan Arkadjewitsch eine Sache der Gewohnheit geworden, und er liebte seine Zeitung wie die Zigarre nach dem
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