Anna Karenina
was dort nach dieser Richtung hin geschehen war, zu studieren und den
zwingenden Beweis zu führen, daß alles, was dort geschehen war, nicht das Richtige und Nötige sei. Ljewin wartete
nur, bis er den Weizen werde abgeliefert und das Geld dafür empfangen haben, um ins Ausland zu reisen. Aber es trat
andauernder Regen ein, der es nicht nur unmöglich machte, die Kartoffeln, und was noch von Korn auf dem Felde
stand, einzubringen, sondern überhaupt alle landwirtschaftlichen Arbeiten hemmte, ja selbst die Ablieferung des
Weizens. Auf den Wegen war ein unergründlicher Schmutz; zwei Mühlen wurden durch plötzlich eintretendes Hochwasser
weggerissen, und das Wetter wurde noch von Tag zu Tag schlechter.
Am 30. September ließ sich frühmorgens die Sonne wieder ein klein wenig blicken, und in der Hoffnung auf gutes
Wetter traf nun Ljewin die endgültigen Vorbereitungen zur Abreise. Er ließ den Weizen aufschütten, schickte den
Verwalter zum Händler, um das Geld in Empfang zu nehmen, und ritt selbst auf seinem ganzen Gebiete umher, um vor
seiner Abreise die letzten Anordnungen zu treffen.
Nachdem Ljewin alle Geschäfte erledigt hatte, ritt er, ganz durchnäßt von den Regenbächlein, die ihm trotz
seines Lederrockes teils in den Hals, teils in die Stiefelschäfte gelaufen waren, aber in der muntersten und
angeregtesten Gemütsstimmung am Abend nach Hause zurück. Das Unwetter tobte gegen Abend noch schlimmer. Der
Graupelschnee peitschte das Pferd, das am ganzen Leibe naß war und fortwährend Kopf und Ohren schüttelte, so
schmerzhaft, daß es in schräger Haltung vorwärts schritt. Ljewin aber fühlte sich unter seiner Regenkappe ganz wohl
und blickte fröhlich um sich, bald nach den trüben Bächlein, die in den Wagengeleisen dahinliefen, bald nach den
Tropfen, die an jedem kahlen Zweige hingen, bald nach dem weißen Fleck noch nicht geschmolzenen Graupelschnees auf
den Brückenbohlen, bald nach dem saftigen, noch fleischigen Laube einer Ulme, das in dicker Schicht um den
entblätterten Baum herumlag. Trotz des düsteren Aussehens der ihn umgebenden Natur fühlte er sich in besonders
gehobener Stimmung. Die Gespräche mit den Bauern auf dem weit entlegenen Felde hatten ihm gezeigt, daß sie
anfingen, sich an ihre neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Der alte Herbergswirt, bei dem er für ein Weilchen
eingekehrt war, um sich zu trocknen, hatte sich über Ljewins Plan sehr beifällig geäußert und sich aus freien
Stücken erboten, in die Genossenschaft als Vieheinkäufer einzutreten.
›Man muß nur beharrlich sein Ziel verfolgen‹, dachte Ljewin. ›Auf die Art werde auch ich das meinige schon
erreichen. Und die Sache ist die darauf verwandte Mühe und Arbeit wert. Es ist das nicht etwa nur meine persönliche
Angelegenheit, sondern hier handelt es sich um das Wohl der Gesamtheit. Die ganze Landwirtschaft, der wichtigste
Teil des Volkslebens, muß vollständig umgestaltet werden. Statt der Armut allgemeiner Wohlstand und Zufriedenheit,
statt der Feindschaft Eintracht und Interessengemeinschaft. Mit einem Worte: eine unblutige Umwälzung, aber eine
ganz gewaltige Umwälzung, zuerst in dem kleinen Raume unseres Kreises, dann im Gouvernement, in Rußland, in der
ganzen Welt. Denn eine wahre, gerechte Idee kann nicht ohne Frucht bleiben. Ja, das ist ein Ziel, für das zu
arbeiten es sich verlohnt. Und daß gerade ich auf diese Idee gekommen bin, Konstantin Ljewin, derselbe Mensch, der
einmal in schwarzer Krawatte zum Ball gefahren ist und dem Kitty Schtscherbazkaja einen Korb gegeben hat und der
sich selbst so kläglich und unbedeutend vorkommt – das beweist gar nichts dagegen. Ich bin überzeugt, daß Franklin
sich für ebenso unbedeutend hielt und ebensowenig Selbstvertrauen besaß, wenn er über seine gesamte Persönlichkeit
nachdachte. Das will gar nichts besagen. Auch der hat gewiß seine Agafja Michailowna gehabt, der er seine
Geheimnisse anvertraute.‹
Unter solchen Gedanken langte Ljewin (es war schon ganz dunkel geworden) wieder zu Hause an.
Der Verwalter war von seiner Fahrt zu dem Händler zurückgekommen und hatte einen Teil des Geldes für den Weizen
mitgebracht. Der Vertrag mit dem Herbergswirte wurde aufgesetzt. Unterwegs hatte der Verwalter bemerkt, daß das
Getreide noch überall auf dem Felde stand, so daß, wie er hervorhob, seine noch nicht eingebrachten hundertsechzig
Haufen nichts waren im Vergleich mit dem, was noch bei andern draußen war.
Nach dem
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