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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Mittagessen setzte sich Ljewin wie gewöhnlich mit einem Buche in den Lehnstuhl und fuhr während des
    Lesens fort, zwischendurch an seine bevorstehende Reise und in Verbindung damit an seine Abhandlung zu denken.
    Heute trat ihm die ganze Bedeutsamkeit dieser seiner Arbeit besonders klar vor Augen, und ganz von selbst bildeten
    sich in seinem Kopfe vollständige Satzgefüge, die den Kern seiner Ideen ausdrückten. ›Das muß ich mir aufzeichnen‹,
    dachte er. ›Das soll eine kurze Einleitung bilden, die ich früher für unnötig gehalten habe.‹ Er erhob sich, um an
    den Schreibtisch zu gehen, und Laska, die zu seinen Füßen lag, stand, sich reckend, gleichfalls auf und sah ihn an,
    wie wenn sie fragte, wohin es gehen solle. Aber er fand keine Zeit, sich seine Aufzeichnungen zu machen, denn die
    Vorarbeiter waren gekommen, um sich Anleitungen zu holen, und Ljewin ging zu ihnen hinaus in die Vorhalle.
    Nachdem er ihnen die erforderlichen Anleitungen erteilt, das heißt Anordnungen für die Arbeiten des nächsten
    Tages getroffen und auch alle Bauern empfangen hatte, die ihn sprechen wollten, kehrte Ljewin wieder in sein Zimmer
    zurück und setzte sich an die Arbeit. Laska legte sich unter den Tisch; Agafja Michailowna setzte sich mit ihrem
    Strickstrumpf auf ihren gewohnten Platz.
    Nachdem Ljewin eine Zeitlang geschrieben hatte, erinnerte er sich auf einmal in ungewöhnlich lebendiger Weise an
    Kitty, an ihre ablehnende Antwort und an die letzte Begegnung mit ihr. Er stand auf und begann im Zimmer auf und ab
    zu gehen.
    »Sie brauchten sich ja hier nicht mehr zu langweilen«, sagte Agafja Michailowna zu ihm. »Wozu sitzen Sie denn
    immer noch zu Hause? Sie sollten nach einem Badeorte mit warmen Quellen fahren; mit Ihren Vorbereitungen sind Sie
    ja glücklicherweise fertig.«
    »Ich will ja auch übermorgen abreisen, Agafja Michailowna. Ich muß nur erst mein Unternehmen zum Abschluß
    bringen.«
    »Na, Ihr Unternehmen, das ist schon so das Richtige! Sie haben so schon den Bauern mehr als genug in den Rachen
    geworfen. Sie sagen ohnehin schon: ›Euer Herr wird vom Zaren dafür eine Gnade erhalten.‹ Ich muß mich immer
    wundern: warum machen Sie sich so viel Sorge um die Bauern?«
    »Ich mache mir nicht um die Bauern Sorge; ich tue das um meinetwillen.«
    Agafja Michailowna wußte mit Ljewins wirtschaftlichen Plänen ganz genau Bescheid; Ljewin hatte ihr seine
    Absichten oft mit allen Einzelheiten auseinandergesetzt und nicht selten mit ihr gestritten und sich ihren
    Anschauungen nicht anschließen können. Aber jetzt hatte sie das, was er sagte, völlig mißverstanden.
    »Ja, das ist gewiß, an sein Seelenheil muß man vor allen Dingen denken«, sagte sie mit einem Seufzer. »Da ist
    zum Beispiel Parfen Denisütsch; wenn er auch nicht lesen und schreiben konnte, aber er ist doch so gestorben, daß
    man nur Gott bitten möchte, jedem einen solchen Tod zu geben«, sagte sie; es war dies ein unlängst verstorbener
    Hofknecht. »Er hatte das Abendmahl genommen und die Letzte Ölung erhalten.«
    »Davon rede ich nicht«, antwortete er. »Ich wollte sagen, daß ich um meines eigenen Vorteils willen so handle.
    Es ist für mich vorteilhafter, wenn die Bauern besser arbeiten.«
    »Da können Sie tun, was Sie wollen: wenn so ein Bauer ein Faulpelz ist, dann wird er sich doch immer ungeschickt
    anstellen. Wenn einer ein Gewissen hat, wird er arbeiten; und wenn er keins hat, ist nichts dagegen
    anzufangen.«
    »Aber Ihr habt doch selbst gesagt, daß Iwan jetzt besser für das Vieh sorgt?«
    »Ich sage nur eins«, erwiderte Agafja Michailowna, und zwar offenbar nicht infolge eines plötzlichen Einfalls,
    sondern als Ergebnis eines streng logischen Gedankenganges: »Sie müssen heiraten, das ist die ganze Sache!«
    Daß Agafja Michailowna ganz denselben Punkt erwähnte, an den er soeben gedacht hatte, ärgerte und verdroß ihn.
    Er runzelte die Stirn und setzte sich, ohne ihr zu antworten, wieder an seine Arbeit; er wiederholte sich noch
    einmal im Kopfe alles, was er sich vorhin über die hohe Bedeutsamkeit dieser Arbeit gesagt hatte. Nur zuweilen
    horchte er in der tiefen Stille auf das Klappern von Agafja Michailownas Stricknadeln, und wenn ihm dann das
    einfiel, woran er nicht denken wollte, so zog er wieder die Stirn in Falten.
    Um neun Uhr wurde Schellengeläut hörbar und das dumpfe Geräusch eines Wagens, der in dem tiefen Schmutze hin und
    her schwankte.
    »Nun, sehen Sie, da bekommen Sie Besuch; nun werden Sie

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