Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
sich nicht mehr langweilen«, sagte Agafja Michailowna,
    stand auf und ging nach der Tür hin. Aber Ljewin überholte sie. Seine Arbeit wollte ihm jetzt nicht recht von der
    Hand gehen, und er freute sich über jeden Gast, mochte kommen, wer da wollte.

31
    Als Ljewin die Treppe zur Hälfte hinuntergelaufen war, hörte er in der Vorhalle ein ihm wohlbekanntes Husten;
    aber er hörte es wegen des Geräusches seiner eigenen Schritte nur undeutlich und hoffte, sich geirrt zu haben; dann
    erblickte er die ganze lange, knochige, ihm so wohlbekannte Gestalt des Ankömmlings, und nun schien die Annahme,
    daß er sich doch vielleicht täusche, eigentlich nicht mehr möglich; aber immer noch hoffte er, daß er sich irre und
    daß dieser lange Mann, der da seinen Pelz auszog und so heftig hustete, nicht sein Bruder Nikolai sei.
    Konstantin Ljewin liebte seinen Bruder; aber mit ihm zusammen zu sein, war ihm immer eine Qual gewesen. Und nun
    gar jetzt, wo Konstantin infolge jenes Gedankens, der zuerst ihm selbst in den Sinn gekommen und dann von Agafja
    Michailowna ausgesprochen war, sich in einem unklaren, verwirrten Seelenzustande befand, gerade jetzt erschien ihm
    das bevorstehende Wiedersehen mit seinem Bruder besonders peinlich. Statt mit einem lustigen, gesunden, fremden
    Gaste, der ihm, wie er gehofft hatte, bei seiner seelischen Benommenheit einige Zerstreuung gebracht hätte, mußte
    er nun mit seinem Bruder zusammen sein, der ihn durch und durch kannte, die geheimsten Gedanken aus ihm
    herauslocken und ihn zwingen würde, sich vollständig auszusprechen. Und das mochte Konstantin Ljewin nicht.
    Aber sofort schalt er auch sich selbst wegen dieser häßlichen Empfindung aus und lief in die Vorhalle hinunter.
    Und sobald er seinen Bruder aus der Nähe gesehen hatte, war auch dieses Gefühl persönlicher Enttäuschung sofort
    verschwunden und ein tiefes Mitleid an seine Stelle getreten. Wie schrecklich Nikolai auch schon früher infolge
    seiner Abmagerung und Krankheit ausgesehen hatte, jetzt war er noch magerer und kraftloser geworden. Er war nur
    noch ein mit Haut überzogenes Gerippe.
    Er stand in der Vorhalle, riß sich unter heftigen, zuckenden Bewegungen des langen, hageren Halses einen Schal
    ab und lächelte in einer seltsam kläglichen Art. Als Konstantin dieses stille, ergebungsvolle Lächeln sah, da
    fühlte er, daß ihm ein Krampf die Kehle zusammenpreßte.
    »Siehst du wohl, da bin ich zu dir gekommen«, sagte Nikolai mit hohler Stimme, ohne die Augen auch nur eine
    Sekunde von dem Gesicht seines Bruders wegzuwenden. »Ich hatte es schon längst tun wollen, war aber immer
    kränklich. Aber jetzt habe ich mich recht erholt«, sagte er und wischte sich mit den großen, mageren Händen die
    Nässe aus dem Barte.
    »Ja, ja!« antwortete Konstantin, und sein Entsetzen steigerte sich noch, als er seinen Bruder küßte und dabei
    mit den Lippen die Trockenheit seines Körpers fühlte und diese großen, seltsam glänzenden Augen ganz nahe vor sich
    sah.
    Einige Wochen vorher hatte Konstantin Ljewin seinem Bruder geschrieben, daß jener kleine Teil des ererbten
    Landes, den die Brüder bisher noch ungeteilt zusammen besessen hatten, nunmehr verkauft sei und daß der Bruder
    jetzt als seinen Anteil gegen zweitausend Rubel zu erhalten habe.
    Nikolai sagte, er sei jetzt gekommen, um dieses Geld in Empfang zu nehmen, hauptsächlich aber in der Absicht,
    einmal eine Zeitlang auf dem Familiensitze zu wohnen und den heimischen Erdboden zu berühren, um daraus wie jene
    Riesen Kraft für die ihm bevorstehende Tätigkeit zu gewinnen. Trotz seiner gekrümmten Haltung, mit der es noch
    schlimmer geworden war, trotz der bei seinem hohen Wuchse besonders auffälligen Hagerkeit waren seine Bewegungen,
    wie auch schon früher, schnell und hastig. Konstantin führte ihn in sein Arbeitszimmer.
    Der Bruder kleidete sich mit besonderer Sorgfalt um, was früher nicht seine Art gewesen war, kämmte sein dünnes,
    schlichtes Haar und ging dann lächelnd hinauf.
    Er befand sich in der freundlichsten, heitersten Stimmung, wie Konstantin ihn in ihrer Kinderzeit oft gesehen zu
    haben sich erinnerte. Selbst von Sergei Iwanowitsch sprach er ohne Bitterkeit. Als er Agafja Michailowna sah,
    scherzte er mit ihr und erkundigte sich nach den alten Dienern. Die Nachricht von Parfen Denisütschs Tode erweckte
    bei ihm eine unangenehme Empfindung; eine Art von Schrecken malte sich auf seinem Gesichte; aber er nahm sich
    sofort wieder zusammen.
    »Er war

Weitere Kostenlose Bücher