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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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an Workujew gegeben; du
    weißt wohl, das ist ein Verleger; ich glaube auch, er schriftstellert selbst. Er hat über solche Sachen ein Urteil,
    und er sagt, es sei etwas Bedeutendes. Aber nun denkst du wohl, sie sei ein Blaustrumpf? Weit gefehlt! Sie ist vor
    allen Dingen eine Frau von Herz; das wirst du ja selbst sehen. Sie hat da jetzt ein junges Mädchen, eine
    Engländerin, bei sich und sorgt für sie und ihre ganze Familie.«
    »Ach, das ist also wohl so ein Stück Philanthropie?«
    »Da haben wir's, du findest in allem gleich etwas Schlechtes. Sie tut das nicht aus Philanthropie, sondern aus
    wirklicher Herzensgüte. Sie hatten, ich meine: Wronski hatte einen englischen Trainer, einen Meister in seinem
    Fach; aber der Mensch ist ein Säufer. Er richtet sich durch den Trunk völlig zugrunde, delirium tremens, und die
    Familie geriet in die größte Not. Anna wurde das gewahr, unterstützte die Leute, mit der Zeit in immer größerem
    Umfange, und jetzt hat sie die ganze Familie in ihrer Obhut. Und sie hilft dabei nicht so von oben herab, nur mit
    Geld, sondern sie bereitet selbst die Knaben durch russischen Unterricht auf das Gymnasium vor, und das Mädchen hat
    sie zu sich ins Haus genommen. Du wirst sie ja da zu sehen bekommen.«
    Der Wagen fuhr auf den Hof hinauf, und Stepan Arkadjewitsch läutete laut am Tor, vor dem ein Schlitten
    stand.
    Ohne den Pförtner, der öffnete, zu fragen, ob die Herrschaft zu Hause sei, trat Stepan Arkadjewitsch in den
    Hausflur. Ljewin folgte ihm; jedoch wurden seine Zweifel, ob er auch richtig handle, immer stärker.
    Bei einem Blick in den Spiegel bemerkte Ljewin, daß er rot aussah; aber er war überzeugt, daß er nicht betrunken
    sei, und stieg hinter Stepan Arkadjewitsch die teppichbelegte Treppe hinauf. Oben fragte Stepan Arkadjewitsch den
    Diener, dessen Verbeugung erkennen ließ, daß er ihn als einen guten Freund des Hauses betrachtete, wer bei Anna
    Arkadjewna sei, und erhielt die Antwort, Herr Workujew sei da.
    »Wo sind sie?«
    »Im Arbeitszimmer.«
    Nachdem Stepan Arkadjewitsch und Ljewin ein kleines Speisezimmer mit dunklem Holzgetäfel an den Wänden
    durchschritten hatten, traten sie auf dem weichen Teppich in das halbdunkle Arbeitszimmer, das nur durch eine Lampe
    mit großem, dunklem Schirm erleuchtet war. Eine zweite Lampe mit einem Reflektor brannte an einer Wand und
    beleuchtete ein lebensgroßes Frauenbildnis, das unwillkürlich Ljewins Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war jenes
    Bildnis Annas, das Michailow in Italien gemalt hatte. Während Stepan Arkadjewitsch um eine mit Schlinggewächsen
    überzogene Gitterwand herumtrat, wo dann eine bisher vernehmbare Männerstimme verstummte, betrachtete Ljewin das
    Bild, das in der hellen Beleuchtung aus dem Rahmen herauszutreten schien, und konnte sich nicht von ihm losreißen.
    Er vergaß sogar, wo er war, hörte gar nicht, was gesprochen wurde, und verwandte kein Auge von der wundervollen
    Darstellung. Das war kein Gemälde, sondern eine lebende, entzückende Frau, mit schwarzem, lockigem Haar, entblößten
    Schultern und Armen und einem sinnenden halben Lächeln auf den von einem zarten Flaum bedeckten Lippen, eine Frau,
    deren Augen ihn sieghaft und zärtlich anblickten und in Aufregung versetzten. Nur darum konnte man sie nicht für
    lebend halten, weil sie schöner war als ein lebendes Weib sein kann.
    »Ich bin sehr erfreut«, hörte er plötzlich neben sich eine Stimme, die sich offenbar an ihn wandte, die Stimme
    eben der Frau, die er im Bilde betrachtete und bewunderte. Anna war ihm hinter dem Pflanzengitter hervor
    entgegengekommen, und Ljewin erblickte in dem halbdunklen Arbeitszimmer das Original des Bildnisses, in einem
    dunklen, verschiedenfarbig blauen Kleide, nicht in derselben Haltung, nicht mit demselben Gesichtsausdrucke wie auf
    dem Bilde, aber von der gleichen vollendeten Schönheit, wie sie der Künstler bei der Wiedergabe so glücklich erfaßt
    und festgehalten hatte. Sie war minder glänzend in der Wirklichkeit als auf dem Bilde; aber dafür besaß die Lebende
    einen besonderen neuen Reiz, den das Bildnis nicht aufwies.
Fußnoten
    1 (frz.) Bruthenne.

10
    Sie trat ihm entgegen, ohne ihre Freude über seinen Besuch zu verbergen. Und in der Ruhe, mit der sie ihm ihre
    kleine, energische Hand hinstreckte, ihn mit Workujew bekannt machte und auf das hübsche rotblonde Mädchen
    hindeutete, das mit einer Arbeit beschäftigt im gleichen Zimmer saß und das sie als ihre Pflegetochter

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