Anna Karenina
Stammesgenossen erweckte
Mitleid mit den Märtyrern und Entrüstung gegen die Bedrücker. Und die Heldenhaftigkeit der Serben und
Montenegriner, die für die große Sache kämpften, erzeugte beim ganzen Volke ein Verlangen, den Brüdern nicht mehr
nur mit Worten, sondern mit der Tat beizustehen.
Damit verband sich noch eine andere Erscheinung, über die Sergei Iwanowitsch große Freude empfand. Dies war das
Entstehen einer öffentlichen Meinung. Das Volk bekundete in klarer Form, was es wollte und wünschte. Die Volksseele
war sichtbar in Erscheinung getreten, wie sich Sergei Iwanowitsch ausdrückte. Und je mehr er sich mit diesem
Gegenstand beschäftigte, um so mehr fühlte er sich in der Überzeugung befestigt, daß dies eine Sache war, der
beschieden sei, eine gewaltige Ausdehnung zu gewinnen und einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte
herbeizuführen.
Er weihte dem Dienst dieser großen Sache seine gesamte Kraft und hörte auf, an sein Buch zu denken.
Seine ganze Zeit war jetzt besetzt, so daß er außerstande war, auf alle an ihn gerichteten Briefe und Begehren
zu antworten.
Nachdem er den ganzen Frühling über und noch während eines Teiles des Sommers mit angespannter Kraft angestrengt
gearbeitet hatte, schickte er sich erst im Juli an, zu seinem Bruder aufs Land zu fahren.
Er unternahm diese Reise, um sich vierzehn Tage zu erholen, aber auch, um in dem eigentlichen Heiligtum der
Nation, beim weltabgeschiedenen Landvolk, sich am Anblick jenes Aufschwungs der Volksseele zu erfreuen, von dessen
tatsächlichem Vorhandensein er mit allen Bewohnern der Residenz und der übrigen Städte fest überzeugt war.
Katawasow, der schon längst vorgehabt hatte, das Versprechen, das er Ljewin gegeben hatte, zu erfüllen und ihn zu
besuchen, reiste mit ihm.
2
Sergei Iwanowitsch und Katawasow waren in Moskau soeben bei dem an diesem Tage besonders belebten Kursker
Bahnhof vorgefahren, sie waren aus ihrem Wagen ausgestiegen und hatten sich nach dem Diener umgesehen, der ihnen in
einem anderen Wagen das Gepäck nachbrachte, als vier Droschken mit Freiwilligen angefahren kamen. Damen mit
Blumensträußen bewillkommneten die Freiwilligen und gingen mit ihnen, von der nachströmenden Volksmenge begleitet,
in das Bahnhofsgebäude hinein.
Eine der Damen, die den Freiwilligen diesen Empfang bereitet hatten, kam zufällig wieder aus dem Wartesaal
heraus und wandte sich an Sergei Iwanowitsch.
»Sind Sie auch hergekommen, um ihnen das Geleite zu geben?« fragte sie ihn auf französisch.
»Nein, ich reise selbst ab, Fürstin. Ich möchte mich bei meinem Bruder ein bißchen erholen. Aber Sie haben wohl
fortwährend damit zu tun, abreisenden Freiwilligen das Geleite zu geben?« sagte Sergei Iwanowitsch mit einem ganz
leisen Lächeln.
»Allerdings, ich kann mich dem nicht entziehen!« antwortete die Fürstin. »Ist es wahr, daß von uns hier schon
achthundert Mann abgegangen sind? Malwinski wollte es mir nicht glauben.«
»Mehr als achthundert. Und wenn man die mitrechnet, die nicht aus Moskau selbst abgegangen sind, dann kommen
schon mehr als tausend heraus«, erwiderte Sergei Iwanowitsch.
»Sehen Sie wohl! Das habe ich ja gesagt!« fiel die Dame erfreut ein. »Und es ist doch auch richtig, daß jetzt
etwa eine Million Rubel gespendet ist?«
»Mehr, Fürstin, mehr!«
»Nun, und was sagen Sie zu der heutigen Nachricht? Die Türken sind wieder geschlagen worden.«
»Ja, ich habe es gelesen«, erwiderte Sergei Iwanowitsch. Dies bezog sich auf die letzte Meldung, die bestätigte,
daß die Türken drei Tage hintereinander an allen Punkten geschlagen und geflohen seien und daß für morgen die
Entscheidungsschlacht erwartet werde.
»Ach ja, wissen Sie, da hat sich ein netter junger Mann gemeldet. Ich weiß nicht, warum ihm Schwierigkeiten
gemacht werden. Ich wollte Sie bitten (denn ich kenne ihn), schreiben Sie ein paar Zeilen zur Empfehlung für ihn.
Er ist von der Gräfin Lydia Iwanowna geschickt.«
Sergei Iwanowitsch fragte die Fürstin eingehend nach allem, was sie über den jungen Mann, der sich gemeldet
hatte, wußte, begab sich dann in den Wartesaal erster Klasse, verfaßte ein kurzes Empfehlungsschreiben an die
entscheidende Persönlichkeit und ging wieder hinaus, um es der Fürstin zu übergeben.
»Wissen Sie, Graf Wronski, der bekannte Wronski, fährt auch mit diesem Zuge«, sagte die Fürstin mit einem
triumphierenden, vielsagenden Lächeln, als er sie wiedergefunden und ihr den Brief
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