Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Stammesgenossen erweckte
    Mitleid mit den Märtyrern und Entrüstung gegen die Bedrücker. Und die Heldenhaftigkeit der Serben und
    Montenegriner, die für die große Sache kämpften, erzeugte beim ganzen Volke ein Verlangen, den Brüdern nicht mehr
    nur mit Worten, sondern mit der Tat beizustehen.
    Damit verband sich noch eine andere Erscheinung, über die Sergei Iwanowitsch große Freude empfand. Dies war das
    Entstehen einer öffentlichen Meinung. Das Volk bekundete in klarer Form, was es wollte und wünschte. Die Volksseele
    war sichtbar in Erscheinung getreten, wie sich Sergei Iwanowitsch ausdrückte. Und je mehr er sich mit diesem
    Gegenstand beschäftigte, um so mehr fühlte er sich in der Überzeugung befestigt, daß dies eine Sache war, der
    beschieden sei, eine gewaltige Ausdehnung zu gewinnen und einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte
    herbeizuführen.
    Er weihte dem Dienst dieser großen Sache seine gesamte Kraft und hörte auf, an sein Buch zu denken.
    Seine ganze Zeit war jetzt besetzt, so daß er außerstande war, auf alle an ihn gerichteten Briefe und Begehren
    zu antworten.
    Nachdem er den ganzen Frühling über und noch während eines Teiles des Sommers mit angespannter Kraft angestrengt
    gearbeitet hatte, schickte er sich erst im Juli an, zu seinem Bruder aufs Land zu fahren.
    Er unternahm diese Reise, um sich vierzehn Tage zu erholen, aber auch, um in dem eigentlichen Heiligtum der
    Nation, beim weltabgeschiedenen Landvolk, sich am Anblick jenes Aufschwungs der Volksseele zu erfreuen, von dessen
    tatsächlichem Vorhandensein er mit allen Bewohnern der Residenz und der übrigen Städte fest überzeugt war.
    Katawasow, der schon längst vorgehabt hatte, das Versprechen, das er Ljewin gegeben hatte, zu erfüllen und ihn zu
    besuchen, reiste mit ihm.

2
    Sergei Iwanowitsch und Katawasow waren in Moskau soeben bei dem an diesem Tage besonders belebten Kursker
    Bahnhof vorgefahren, sie waren aus ihrem Wagen ausgestiegen und hatten sich nach dem Diener umgesehen, der ihnen in
    einem anderen Wagen das Gepäck nachbrachte, als vier Droschken mit Freiwilligen angefahren kamen. Damen mit
    Blumensträußen bewillkommneten die Freiwilligen und gingen mit ihnen, von der nachströmenden Volksmenge begleitet,
    in das Bahnhofsgebäude hinein.
    Eine der Damen, die den Freiwilligen diesen Empfang bereitet hatten, kam zufällig wieder aus dem Wartesaal
    heraus und wandte sich an Sergei Iwanowitsch.
    »Sind Sie auch hergekommen, um ihnen das Geleite zu geben?« fragte sie ihn auf französisch.
    »Nein, ich reise selbst ab, Fürstin. Ich möchte mich bei meinem Bruder ein bißchen erholen. Aber Sie haben wohl
    fortwährend damit zu tun, abreisenden Freiwilligen das Geleite zu geben?« sagte Sergei Iwanowitsch mit einem ganz
    leisen Lächeln.
    »Allerdings, ich kann mich dem nicht entziehen!« antwortete die Fürstin. »Ist es wahr, daß von uns hier schon
    achthundert Mann abgegangen sind? Malwinski wollte es mir nicht glauben.«
    »Mehr als achthundert. Und wenn man die mitrechnet, die nicht aus Moskau selbst abgegangen sind, dann kommen
    schon mehr als tausend heraus«, erwiderte Sergei Iwanowitsch.
    »Sehen Sie wohl! Das habe ich ja gesagt!« fiel die Dame erfreut ein. »Und es ist doch auch richtig, daß jetzt
    etwa eine Million Rubel gespendet ist?«
    »Mehr, Fürstin, mehr!«
    »Nun, und was sagen Sie zu der heutigen Nachricht? Die Türken sind wieder geschlagen worden.«
    »Ja, ich habe es gelesen«, erwiderte Sergei Iwanowitsch. Dies bezog sich auf die letzte Meldung, die bestätigte,
    daß die Türken drei Tage hintereinander an allen Punkten geschlagen und geflohen seien und daß für morgen die
    Entscheidungsschlacht erwartet werde.
    »Ach ja, wissen Sie, da hat sich ein netter junger Mann gemeldet. Ich weiß nicht, warum ihm Schwierigkeiten
    gemacht werden. Ich wollte Sie bitten (denn ich kenne ihn), schreiben Sie ein paar Zeilen zur Empfehlung für ihn.
    Er ist von der Gräfin Lydia Iwanowna geschickt.«
    Sergei Iwanowitsch fragte die Fürstin eingehend nach allem, was sie über den jungen Mann, der sich gemeldet
    hatte, wußte, begab sich dann in den Wartesaal erster Klasse, verfaßte ein kurzes Empfehlungsschreiben an die
    entscheidende Persönlichkeit und ging wieder hinaus, um es der Fürstin zu übergeben.
    »Wissen Sie, Graf Wronski, der bekannte Wronski, fährt auch mit diesem Zuge«, sagte die Fürstin mit einem
    triumphierenden, vielsagenden Lächeln, als er sie wiedergefunden und ihr den Brief

Weitere Kostenlose Bücher