Bullet Catcher - St. Claire, R: Bullet Catcher
Prolog
Charleston, South Carolina, 1978
Wahrscheinlich hatte sie den Verstand verloren.
Warum sonst sollte sie hier im Dunkeln auf den Mann warten, der ihr Leben zerstört und ihr das Herz gebrochen hatte? Der ihr das Wichtigste im Leben genommen hatte? Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie seit jener traumatischen Geburt nicht mehr klar denken konnte.
Wie sonst hatte sie sich darauf einlassen können, sich nachts um ein Uhr in dieser dunklen Gasse mit ihm zu treffen?
Sie rieb sich die Arme. Es war April. Noch herrschte frühlingshafte Kühle.
Er wollte sie wohl kaum zurückhaben. Und doch hatte sein Anruf einen leisen Funken Hoffnung in ihr geweckt. Immerhin verband sie jetzt etwas – sie waren Eltern, ganz unabhängig von der Entscheidung, die sie getroffen hatte.
Vielleicht würde seine Liebe zu ihr wieder erwachen. Vielleicht könnte sie den Fehler wiedergutmachen, den sie vor acht Monaten in dem Farmhaus am Sapphire Trail begangen hatte. Wenn er sie nur wieder lieben würde.
Sie schnaubte leise. In Wahrheit hatte er sie ohnehin nie geliebt. Er hatte sie benutzt, hatte sie genommen, auf dem Schreibtisch, in seinem Wagen, sogar bei sich zu Hause auf dem Fußboden, wenn seine Frau sich mit ihrem patriotischen Frauenclub traf. Er hatte sie behandelt, wie mächtige Männer eben ihre Sekretärinnen behandelten.
Sie fühlte Abscheu in sich aufsteigen. Er hatte sie aus einem bestimmten Grund hierherbestellt. Ob er ihr Geld anbieten wollte, damit sie ihr gemeinsames Geheimnis nicht verriet? Warum nicht. Sie bekäme eine zumindest finanzielle Entschädigung, und er könnte seinen kostbaren Ruf wahren.
Als sie auf ihre Armbanduhr sah, hörte sie ein leises Geräusch, das Rascheln von Schritten, das sie aufhorchen und sich umdrehen ließ. Doch alles, was sie sah, war das Efeu, das sich über die Klinkermauer und ein Haus mit Klimaanlagenkästen rankte, sowie zwei Mülltonnen auf der anderen Seite der Gasse.
Instinktiv wich sie zurück, näher zum Licht und zum Tor des alten Friedhofs. Abergläubisch war sie nicht, doch in einer mondlosen Nacht zwischen hundert Jahre alten Grabsteinen und knorrigen Baumwurzeln zu stehen, das war ihr doch ein wenig zu gruselig.
Hatte er deshalb diesen Ort als Treffpunkt gewählt? Weil er wusste, dass sie Angst haben würde? Oder hatte er daran gedacht, wie sie sich hier getroffen und geliebt hatten, genau an dieser Stelle, an dieser Mauer?
Sie legte ihre Hände auf das kühle schmiedeeiserne Tor. Als es mit leisem Quietschen aufsprang, überlief sie ein kalter Schauer.
Der Klang von Schritten ließ sie wieder zum entfernten Ende der Gasse blicken. Zwei Gestalten kamen schnurstracks auf sie zu, ein Mann und eine Frau, soweit sie das erkennen konnte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Sie drückte das Tor weiter auf und schlüpfte hindurch, um hinter die Mauer zu treten. Ob er sie gesehen hatte?
Die Schritte wurden lauter. Die Frau sagte etwas, dann der Mann.
Eileen stockte der Atem. Es war ihr Mann.
Sie presste sich flach gegen die Mauer und horchte. Warum hatte er sie hierherbestellt, um dann mit einer anderen Frau aufzutauchen? Seine Ehefrau war das nicht, das war an der schlanken Silhouette klar zu erkennen. Langsam schob sich Eileen aus ihrem Versteck und spähte blinzelnd in die Dunkelheit.
Er nahm die Frau direkt an der Wand, sein Ächzen vermischte sich mit ihrem Stöhnen. War er das wirklich? Sie konnte es nicht sagen. Er trug einen langen, dunklen Mantel, und die Frau hatte ihre Hände um seinen Kopf gelegt und verdeckte sein Haar.
Es klang wie er – er hatte immer gekeucht wie ein brünftiger Eber. Hatte er sie deshalb hierherbeordert? Um ihr zu zeigen, dass es vorbei war, dass sie abgelöst worden war? Zorn brandete in ihr auf, doch gerade, als sie den Mund öffnen wollte, löste er sich von seiner Gespielin. Die Frau sagte etwas, er machte eine ruckartige Bewegung, dann dröhnte eine Explosion durch die Nacht.
Um Himmels willen – er hat sie erschossen!
Eileen konnte von der Frau nur das Gesicht sehen, das auf seine Schulter sank, als sie im Sterben in sich zusammensackte.
Sie presste sich die Hand auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, und drückte sich wieder an die Mauer, um in ungläubigem Entsetzen zu Boden zu sinken. Rennende Schritte – seine Schritte, die Schritte eines Mörders – verklangen auf dem Pflaster in Richtung Cumberland Road.
Sie bekam keine Luft. Kaum vier Meter entfernt von ihr lag eine Frau tot auf der Straße,
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