Anna Karenina
ein bescheidener, stiller Mensch, auf
den der Rang eines gewesenen Gardeoffiziers und die heldenmütige Selbstaufopferung des Kaufmanns offenbar großen
Eindruck machten, und der von sich selbst gar nicht sprach. Als Katawasow ihn fragte, was ihn denn dazu veranlaßt
habe, nach Serbien zu gehen, antwortete er bescheiden:
»Das ist doch ganz natürlich; es gehen ja alle hin. Man muß doch auch das Seinige tun, um den Serben zu helfen.
Sie tun einem doch leid.«
»Ja, namentlich fehlt es dort an Ihrer Truppe, an Artilleristen«, bemerkte Katawasow.
»Ich habe nicht lange bei der Artillerie gedient; vielleicht komme ich auch zur Infanterie oder zur
Kavallerie.«
»Wie wird man Sie denn zur Infanterie nehmen, während doch gerade an Artilleristen am meisten Mangel ist?«
erwiderte Katawasow, der aus dem Lebensalter des Artilleristen folgerte, daß er schon einen ziemlich hohen Rang
haben müsse.
»Ich habe nicht lange bei der Artillerie gedient; ich bin Fahnenjunker außer Dienst«, antwortete er und setzte
dann auseinander, warum er die Prüfung nicht bestanden habe.
Was Katawasow von den Freiwilligen sah und hörte, machte alles zusammengenommen auf ihn einen unangenehmen
Eindruck, und als sie auf der nächsten Station ausstiegen, um etwas zu trinken, wollte er gern im Gespräch mit
irgend jemandem den empfangenen ungünstigen Eindruck auf seine Richtigkeit untersuchen. Ein mitreisender bejahrter
Mann in einem Militärmantel hatte die ganze Zeit über Katawasows Gespräch mit den Freiwilligen angehört. Als sie
nun beide miteinander allein geblieben waren, wandte sich Katawasow an ihn.
»Ja, wie verschiedenartig doch die Lebensstellungen all der Leute sind, die sich dorthin begeben«, begann
Katawasow mit einem allgemein gehaltenen Satze, in der Absicht, im weiteren Verlaufe des Gespräches seine eigene
Meinung auszusprechen und zugleich die Meinung des Alten in Erfahrung zu bringen.
Der Alte war ein Militär, der zwei Feldzüge mitgemacht hatte. Er wußte, was zu einem Soldaten gehört, und nach
der äußeren Erscheinung und den Reden dieser Herren, auch nach der Tapferkeit, mit der sie unterwegs der Flasche zu
Leibe gegangen waren, hielt er sie für schlechte Soldaten. Außerdem hätte er gern erzählt, daß aus der Kreisstadt,
in der er wohnte, ein auf unbestimmte Zeit beurlaubter Soldat, ein Trunkenbold und Dieb, den niemand mehr als
Arbeiter annehmen wollte, gleichfalls mitgegangen sei. Aber da er aus Erfahrung wußte, daß es bei der jetzigen
Volksstimmung gefährlich sei, eine mit der herrschenden Meinung im Widerspruch stehende Meinung auszusprechen und
namentlich sich über die Freiwilligen mißfällig zu äußern, so wollte er gleichzeitig erst Katawasow aushorchen.
»Das tut nichts; man braucht dort Leute«, antwortete er und lachte mit den Augen. Die beiden unterhielten sich
nun miteinander über die letzte Nachricht vom Kriegsschauplatz, und einer suchte vor dem anderen seine Unwissenheit
darüber zu verbergen, mit wem denn nun eigentlich für den folgenden Tag eine Schlacht erwartet wurde, da doch der
letzten Nachricht zufolge die Türken an allen Punkten geschlagen waren. Und so trennten sich schließlich die
beiden, ohne ihre Ansichten ausgesprochen zu haben.
Als Katawasow wieder in seinen Wagen zurückgekehrt war, erzählte er seinem Reisegenossen Sergei Iwanowitsch
seine Wahrnehmungen über die Freiwilligen unwillkürlich in gefälschter Färbung, so daß als Ergebnis herauskam, daß
es vortreffliche Leute seien.
Auf dem großen Bahnhof der Gouvernementsstadt wurden die Freiwilligen wieder mit Gesang und Hurrarufen begrüßt;
wieder erschienen Herren und Damen mit Sammelbüchsen; Damen überreichten den Freiwilligen Blumensträuße und
geleiteten sie zum Schanktisch. Aber die Tonart des Ganzen war doch schon erheblich ruhiger und schwächer als in
Moskau.
4
Während des Aufenthalts auf dem Bahnhof der Gouvernementsstadt ging Sergei Iwanowitsch nicht in den Wartesaal,
sondern spazierte auf dem Bahnsteig auf und ab.
Als er das erstemal an Wronskis Abteil vorüberkam, bemerkte er, daß der Fenstervorhang zugezogen war. Aber beim
zweitenmal erblickte er die alte Gräfin am Fenster. Sie rief ihn zu sich heran.
»Ja, sehen Sie wohl, da reise ich nun und begleite ihn bis Kursk«, sagte sie.
»Ja, ich habe davon gehört«, erwiderte Sergei Iwanowitsch, indem er an ihrem Fenster stehenblieb und hineinsah.
»Welch schöne Handlungsweise von ihm!« fügte er hinzu,
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