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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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macht.«
    »Ich habe ihn nie gern gemocht. Aber sein jetziges Verhalten macht vieles wieder gut. Er geht jetzt nicht nur
    selbst hin, sondern nimmt auch eine ganze Schwadron mit, die er auf seine Kosten ausgerüstet hat.«
    »Ja, ich habe davon gehört.«
    Die Glocke wurde angeschlagen. Alle drängten sich zur Tür.
    »Da ist er«, sagte die Fürstin und deutete auf Wronski, der, in einem langen Überzieher und mit einem schwarzen,
    breitkrempigen Hute, seine Mutter am Arm führend, vorüberkam. Neben ihm ging Oblonski und sprach lebhaft auf ihn
    ein.
    Wronski blickte mit finsterer Miene vor sich hin, als wenn er auf das, was Stepan Arkadjewitsch sagte, gar nicht
    hinhörte.
    Wahrscheinlich von Oblonski aufmerksam gemacht, wandte er seine Augen nach der Seite, wo die Fürstin und Sergei
    Iwanowitsch standen, und lüftete schweigend den Hut. Sein gealtertes Gesicht, das den Ausdruck tiefen Leides trug,
    sah wie versteinert aus.
    Nachdem Wronski und seine Mutter auf den Bahnsteig hinausgetreten waren, ließ er zuerst schweigend seine Mutter
    einsteigen und verschwand dann selbst im Wagen.
    Auf dem Bahnsteig wurde gesungen: »Gott erhalte den Zaren«; dann ertönten die Rufe: »Hurra!« und »Zivio!« Einer
    der Freiwilligen, ein hochaufgeschossener, sehr junger Mensch mit eingesunkener Brust, machte sich beim
    Abschiednehmen ganz besonders bemerkbar, indem er seinen Filzhut und einen Blumenstrauß über seinem Kopfe
    schwenkte. Hinter ihm beugten sich zwei Offiziere und ein schon bejahrter Mann mit großem Barte und schmieriger
    Uniformmütze aus dem Fenster heraus und grüßten gleichfalls zum Abschied.
Fußnoten
    1 (frz.) die kleinen Beschwerlichkeiten
    des menschlichen Lebens.

3
    Nachdem Sergei Iwanowitsch sich von der Fürstin verabschiedet hatte, stieg er mit Katawasow, der sich wieder zu
    ihm gesellt hatte, in einen überfüllten Wagen ein, und der Zug setzte sich in Bewegung.
    Auf der Station Zarizün wurde der Zug von einer Anzahl junger Männer empfangen, die in wohltönendem Chorgesange
    »Sei stolz« sangen. Wieder beugten sich die Freiwilligen aus dem Fenster und grüßten; aber Sergei Iwanowitsch
    schenkte ihnen weiter keine Aufmerksamkeit: er hatte mit Freiwilligen schon so viel zu tun gehabt, daß er ihr
    gemeinsames Wesen zur Genüge kannte und solche Bilder ihn nicht mehr fesselten. Katawasow dagegen, der bei seinen
    vielen gelehrten Arbeiten keine Gelegenheit gehabt hatte, die Freiwilligen aus der Nähe zu beobachten, beschäftigte
    sich sehr mit ihnen und erkundigte sich eingehend über sie bei Sergei Iwanowitsch.
    Sergei Iwanowitsch riet ihm, zu ihnen in die zweite Klasse zu gehen und selbst mit ihnen zu reden. Auf der
    nächsten Station befolgte Katawasow diesen Rat.
    Er begab sich in den Wagen zweiter Klasse und suchte die Freiwilligen kennenzulernen. Sie saßen in einer Ecke
    des Abteils, unterhielten sich sehr laut und waren sich offenbar dessen bewußt, daß die Aufmerksamkeit der übrigen
    Reisenden sowie des hinzugekommenen Katawasow ausschließlich auf sie gerichtet war. Am lautesten von allen sprach
    der hochaufgeschossene Jüngling mit der eingefallenen Brust. Er war augenscheinlich betrunken und erzählte eine
    tolle Geschichte, die sich auf einer Lehranstalt, als er dort Schüler war, zugetragen hatte. Ihm gegenüber saß ein
    nicht mehr junger Offizier in der kurzen Uniformjacke der österreichischen Garde. Er hörte lächelnd dem Erzähler zu
    und unterbrach ihn mitunter. Ein dritter, in Artillerieuniform, saß neben ihnen auf einem Koffer. Ein vierter
    schlief.
    Katawasow ließ sich mit dem jungen Mann in ein Gespräch ein und erfuhr, daß er ein ehemals reicher Moskauer
    Kaufmann war, der schon vor seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr ein großes Vermögen durchgebracht hatte. Er
    mißfiel Katawasow wegen seines weichlichen, verzärtelten Wesens und seiner schwachen Gesundheit. Er war offenbar
    überzeugt, namentlich jetzt, wo er betrunken war, daß er eine heldische Tat vollbringe, und prahlte in
    widerwärtigster Weise.
    Der zweite, ein gewesener Offizier, machte gleichfalls auf Katawasow einen unangenehmen Eindruck. Es war dies,
    wie sich herausstellte, ein Mensch, der schon alles mögliche unternommen hatte. Er war Eisenbahnbeamter gewesen,
    und Gutsverwalter, und hatte selbst Fabriken angelegt, und redete über alles, wobei er ohne jeden Anlaß und an ganz
    falscher Stelle gelehrte Ausdrücke anwendete.
    Der dritte dagegen, der Artillerist, gefiel Katawasow recht gut. Er war

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