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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Zimmer.
    »Da bist du ja endlich«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen.
    Er küßte ihr die Hand und setzte sich zu ihr.
    »Im ganzen ist deine Reise, wie ich sehe, gut verlaufen«, begann er.
    »O ja, sehr gut«, antwortete sie und begann ihm alles von Anfang an zu erzählen: ihre Fahrt mit der Gräfin
    Wronskaja, ihre Ankunft in Moskau, den Unfall auf der Eisenbahn. Darauf erzählte sie, wie sie zuerst mit ihrem
    Bruder und dann mit Dolly Mitleid gehabt habe.
    »Ich bin nicht der Ansicht, daß man einen solchen Menschen entschuldigen kann, wiewohl er dein Bruder ist«,
    bemerkte Alexei Alexandrowitsch in strengem Tone.
    Anna lächelte. Sie durchschaute, daß er das namentlich in der Absicht sagte, zu zeigen, daß verwandtschaftliche
    Rücksichten ihn nicht davon zurückhalten könnten, seine ehrliche Meinung auszusprechen. Sie kannte an ihrem Manne
    diesen Charakterzug und mochte ihn gern.
    »Ich freue mich, daß alles glücklich erledigt ist und du wieder hier bist«, fuhr er fort. »Nun, was sagt man
    denn dort über die neue Maßregel, die ich im Rat durchgesetzt habe?«
    Anna hatte von dieser Maßregel nicht reden hören, und sie schämte sich, daß sie so leicht hatte etwas vergessen
    können, was ihm so wichtig war.
    »Hier hat die Sache im Gegenteil viel Aufsehen er regt«, sagte er mit selbstzufriedenem Lächeln.
    Sie merkte, daß Alexei Alexandrowitsch ihr über diese Sache etwas mitteilen wollte, was ihm Vergnügen gemacht
    hatte, und veranlaßte ihn durch Fragen zum Erzählen. Und mit eben jenem selbstzufriedenen Lächeln berichtete er von
    den Ehrungen, die ihm infolge der Durchsetzung jener Maßregel dargebracht worden waren.
    »Ich habe mich sehr, sehr gefreut. Es ist dies ein Beweis dafür, daß endlich auch bei uns feste, vernünftige
    Ansichten auf diesem Gebiete zur Herrschaft gelangen.«
    Nachdem Alexei Alexandrowitsch sein zweites Glas Tee mit Sahne getrunken und etwas Brot dazu gegessen hatte,
    stand er auf und schickte sich an, in sein Arbeitszimmer zu gehen.
    »Und du bist heute abend gar nicht aus gewesen? Da hast du dich gewiß recht gelangweilt?« fragte er.
    »O nein!« antwortete sie. Sie war nach ihm gleichfalls aufgestanden und begleitete ihn durch den Saal zu seinem
    Zimmer. »Was liest du denn jetzt?« fragte sie.
    »Ich lese jetzt Duc de Lilie: Poésie des enfers«, erwiderte er. »Ein sehr merkwürdiges Buch.«
    Anna lächelte, wie man eben zu den Schwächen geliebter Menschen lächelt, und begleitete ihn, indem sie ihren Arm
    unter den seinigen schob, bis an die Tür seines Arbeitszimmers. Sie kannte seine ihm zum Bedürfnis gewordene
    Gewohnheit, abends zu lesen. Sie wußte, daß er, obwohl seine amtlichen Obliegenheiten fast seine gesamte Zeit in
    Anspruch nahmen, es dennoch für seine Pflicht hielt, alle bemerkenswerten Erscheinungen auf geistigem Gebiete zu
    verfolgen. Sie wußte auch, daß nur politische, philosophische und theologische Bücher ihn wirklich interessierten,
    die Kunst dagegen ihm nach seinem ganzen Wesen völlig fern lag, daß aber Alexei Alexandrowitsch trotzdem oder
    vielmehr gerade deshalb auch auf diesem Gebiete nichts unbeachtet ließ, was Aufsehen erregte, und es für seine
    Pflicht hielt, alles zu lesen. Sie wußte, daß er auf dem Gebiete der Politik, Philosophie und Theologie seine
    Zweifel hatte oder die Wahrheit noch zu ergründen suchte, aber in Fragen der Kunst und der Poesie, ganz besonders
    aber der Musik, für die ihm jedes Verständnis abging, ganz bestimmte feste Ansichten besaß. Er sprach gern von
    Shakespeare, von Raffael, von Beethoven und von dem Werte der neueren Richtungen in der Poesie und Musik und hatte
    über all dies sehr klare, festgelegte Gedankengänge im Kopfe.
    »Nun, Gott mit dir!« sagte sie an der Tür des Arbeitszimmers, in dem für ihn bei seinem Lehnstuhl bereits eine
    Kerze mit einem Lichtschirm und eine Karaffe mit Wasser bereit standen. »Ich will noch nach Moskau schreiben.«
    Er drückte ihr die Hand und küßte sie ihr nochmals.
    ›Und trotz allem ist er ein braver, aufrichtiger, gutherziger und in seinem Wirkungskreise bedeutender Mann‹,
    sagte Anna zu sich selbst, nachdem sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, als ob sie ihn gegen jemand verteidigte,
    der ihn angeschuldigt und behauptet hätte, man könne ihn nicht lieben. ›Aber daß ihm die Ohren so sonderbar vom
    Kopfe abstehen! Oder hat er sich vielleicht das Haar schneiden lassen?‹
    Punkt zwölf Uhr – Anna saß noch an ihrem Schreibtische

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