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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Gedächtnisse, wer das wohl sein möchte. Wronskis Ruhe und
    Selbstbewußtsein stießen hier wie die Sense auf den Stein mit dem kalten Wesen und dem Selbstbewußtsein Alexei
    Alexandrowitschs zusammen.
    »Graf Wronski«, sagte Anna.
    »Ah! Ich glaube, wir kennen einander«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch in gleichgültigem Tone und reichte ihm
    die Hand. »Hin bist du also mit der Mutter gefahren und zurück mit dem Sohne«, fuhr er, zu Anna gewendet, fort,
    wobei er sich einer so bedächtigen, sorgsamen Aussprache bediente, als ob jedes Wort ein Rubel wäre, den er
    wegschenkte. »Sie kommen gewiß von Ihrem Urlaub zurück?« fragte er Wronski und kehrte sich, ohne dessen Antwort
    abzuwarten, wieder in seinem scherzenden Tone zu seiner Frau hin: »Nun, sind in Moskau beim Abschied viele Tränen
    geflossen?«
    Durch diese Frage an seine Frau wollte er Wronski zu verstehen geben, daß er allein zu bleiben wünsche, und
    berührte, zu ihm gewandt, seinen Hut. Aber Wronski wendete sich zu Anna Arkadjewna:
    »Ich hoffe, daß ich die Ehre haben darf, Ihnen meine Aufwartung zu machen«, sagte er.
    Alexei Alexandrowitsch blickte mit seinen müden Augen Wronski an.
    »Sehr angenehm«, versetzte er kühl. »Wir empfangen montags.« Nachdem er so das Gespräch mit Wronski endgültig
    zum Abschluß gebracht hatte, sagte er zu seiner Frau in jenem selben scherzhaften Tone: »Wie gut, daß ich gerade
    eine halbe Stunde freie Zeit hatte, um dich abzuholen, und dir dadurch meine Zärtlichkeit beweisen konnte.«
    »Du hebst deine Zärtlichkeit denn doch gar zu stark hervor, als daß ich sie so sehr hoch veranschlagen könnte«,
    versetzte sie in demselben scherzhaften Tone und horchte dabei unwillkürlich auf den Schall der Schritte Wronskis,
    der hinter ihnen ging. ›Aber was kümmert das mich?‹ dachte sie und fragte ihren Mann, wie es dem kleinen Sergei in
    ihrer Abwesenheit ergangen sei.
    »Oh, vorzüglich! Mariette sagt, er sei sehr artig gewesen und habe sich – ich muß dich da leider betrüben – gar
    nicht nach dir gegrämt, ganz anders als dein Gatte. Aber noch einmal merci, liebe Frau, daß du mir unerwartet
    diesen Tag geschenkt hast. Unser lieber Samowar wird ganz entzückt sein.« (Samowar nannte er die überall bekannte
    Gräfin Lydia Iwanowna, und zwar weil sie immer und über alles mögliche sich erhitzte und aufbrauste.) »Sie hat sich
    fortwährend nach dir erkundigt. Und weißt du, wenn ich mir erlauben darf, dir einen Rat zu geben, du solltest
    gleich heute zu ihr hinfahren. Sie nimmt sich ja alles so furchtbar zu Herzen. Zu allem, was sie so schon zu tun
    hat, interessiert sie sich jetzt auch noch für die Aussöhnung der Oblonskis.«
    Die Gräfin Lydia Iwanowna war mit Annas Manne befreundet und bildete den Mittelpunkt des Petersburger
    Gesellschaftskreises, in dem Anna ihres Mannes wegen am meisten verkehrte.
    »Ich habe ihr ja darüber geschrieben.«
    »Gewiß, aber sie möchte alles ganz genau wissen. Besuche sie doch, wenn du nicht zu müde bist, liebe Frau. Nun
    also, dich wird Kondrati nach Hause fahren, und ich meinerseits fahre in die Komiteesitzung. Nun brauche ich doch
    nicht mehr allein zu Mittag zu speisen«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort, und zwar jetzt nicht mehr in dem
    scherzenden Tone. »Du glaubst gar nicht, wie ich mich an dich gewöhnt habe ...«
    Er drückte ihr lange die Hand und war ihr mit einem besonderen Lächeln beim Einsteigen in den Wagen
    behilflich.

32
    Der erste, der Anna zu Hause entgegenkam, war ihr kleiner Sohn. Er sprang schon auf der Treppe auf sie zu, trotz
    allen Zurufen seiner Gouvernante, und schrie ganz wild vor Entzücken: »Mama, Mama!« Und sofort hängte er sich ihr
    an den Hals.
    »Ich hab Ihnen doch gleich gesagt, es ist Mama!« rief er der Gouvernante zu. »Das hab ich gewußt!«
    Aber auch der Sohn rief, gerade wie der Mann, bei Anna ein Gefühl hervor, das einige Ähnlichkeit mit dem der
    Enttäuschung hatte. Sie hatte ihn sich in der Erinnerung schöner ausgemalt, als er in Wirklichkeit war. Sie mußte
    erst wieder zur Wirklichkeit herabsteigen, um sich an ihm, so wie er war, zu freuen. Aber auch so, wie er wirklich
    war, machte er einen reizenden Eindruck mit seinen blonden Locken, den blauen Augen und den kräftigen,
    wohlgestalteten Beinchen in den straff sitzenden Strümpfen. Die Empfindung seiner Nähe und seine Liebkosungen
    riefen bei Anna beinahe ein physisches Lustgefühl hervor, und zugleich empfand sie eine Art von seelischer
    Beruhigung,

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