Anna Strong Chronicles 01 - Verführung der Nacht
brauchst weder ihm noch sonst jemandem je wieder irgendwelche Erklärungen zu liefern. Du bist ein Vampir, Anna, und du musst lernen, dich entsprechend zu verhalten.
Seine Überheblichkeit ist mir peinlich. Wenn das stimmt, ermahne ich ihn sanft, warum verbergen wir dann unsere wahre Identität?
Er zieht eine Augenbraue hoch. Du bist ganz schön dreist, weißt du das? Vielleicht mag ich dich deshalb so sehr. Du hast eine besondere Art, mich auf den Boden zurückzuholen. Also gut, Anna, vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn du heute bei deinem kleinen Freund übernachtest. Aber gleich morgen früh will ich dich sehen. Ich werde mich heute Abend ein wenig umhören, vielleicht bringe ich in Erfahrung, wo Donaldson sich versteckt. Womöglich können wir herausfinden, was er als Nächstes vorhat.
Ich steige aus dem Auto und lasse die Bemerkung, ich dürfe ruhig »bei meinem kleinen Freund« übernachten, unkommentiert. Ich brauche seine Erlaubnis nicht. Seine Hilfe brauche ich allerdings.
Er streckt die Hand aus, legt sie auf meinen Arm und umfasst mit der anderen mein Kinn. »Es wird alles wieder gut.«
Sein Blick ist tröstlich. Zumindest diesen Augenblick lang erlaube ich mir, ihm zu glauben.
KAPITEL 19
Meine Eltern wohnen in La Mesa, einem Pendlervorort östlich von San Diego.
Für die Fahrt, die höchstens zwanzig Minuten dauern sollte, brauche ich wegen des dichten Verkehrs vierzig Minuten, aber ausnahmsweise habe ich es mal nicht eilig. Zum ersten Mal seit Tagen bin ich allein, wirklich allein. Der Heulanfall in Averys Wagen hat mich von ein paar aufgestauten Gefühlen befreit, und die Traurigkeit ist weg; dafür kocht jetzt Zorn in mir hoch.
Zum ersten Mal in meinem Leben erfahre ich, wie es sich anfühlt, wenn man jemanden tot sehen will. Sollte Donaldson hinter diesem Brand stecken, könnte ich mir Averys Vorschlag, er müsse getötet werden, geradezu noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Es schockiert mich nicht, dass ich so denke, und ich schiebe es auch nicht auf meine Wandlung. Das hat nichts damit zu tun, dass ich ein Vampir bin, sondern allein damit, was Donaldson mir genommen hat. Das ist eine beinahe menschliche Reaktion. Was tröstlich ist, auf eine gewisse, verrückte Art und Weise.
Bei meinen Eltern zu Hause steht mir erneut vor Augen, was dieser Brand wirklich bedeutet. Ihr Haus ist voller Fotos in silbernen Rahmen, einige von meinen Großeltern, im Häuschen oder im Garten aufgenommen. Ich nehme eines davon und drücke es an meine Brust, als ich zum Schlafzimmer gehe.
Meine Mutter ist Rektorin einer Highschool, mein Vater Investment-Banker. Ich bin ein Einzelkind. Ich hatte einen Bruder, Steve, zwei Jahre älter als ich. Er ist mit achtzehn Jahren ums Leben gekommen, auf eine so sinnlose, zerstörerische Weise, dass es kaum zu begreifen ist. Er wurde am helllichten Tag von einem Betrunkenen überfahren, mitten auf einem Zebrastreifen auf dem Weg zu einer Vorlesung an der Cornell University.
Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet jetzt an Steve denken muss. Vielleicht liegt es daran, dass wir in diesem Haus zusammen aufgewachsen sind und seine Gegenwart hier noch spürbar ist. Nicht auf gefühlsduselige Weise es gibt keinen Schrein zu seinem Gedenken auf dem Fernseher oder so.
Nein, es ist die Bestätigung, dass das Leben weitergeht, sogar nach einer solchen Tragödie. Meine Eltern haben hart an sich gearbeitet, um dafür zu sorgen, dass ich in den Tiefen ihrer untröstlichen Trauer nicht unterging. Weshalb sie sich jetzt so über das Leben aufregen, das ich für mich gewählt habe. Ich weiß das. Ich kann ihnen nur nicht erklären, warum mir das so wichtig ist. Ich kann ihnen nicht erklären, dass ich mich gerade wegen Steves Tod für dieses Leben und diesen Beruf entschieden habe. Er wurde getötet, an einem ganz normalen, friedlichen Vormittag, ohne Vorwarnung und ohne jeden Grund.
Wenn unser aller Leben ohnehin derart am seidenen Faden hängt, will ich verdammt sein, wenn ich es in scheinbar sicherer Langeweile zubringe. Aber darüber brauche ich mir jetzt eigentlich keine Gedanken mehr zu machen, nicht wahr?
Vielleicht könnte ich es jetzt, da sich die Ewigkeit vor mir erstreckt, in einem stinknormalen Job aushalten, und sei es nur, um meine Eltern in der kurzen Zeit, die uns noch zusammen bleibt, glücklich zu machen.
Denn ich weiß, dass die Zeit kurz sein wird. Nicht, weil sie krank wären oder so etwas, sondern weil mir nun klar wird, wie wenige Jahre mir bleiben,
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