Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
und Schuhnägel aus seinem Stapel und versuchte, gleichzeitig ein Auge auf die Ziegen zu haben. Die Ziegen von Annawadi liebten den Geruch von Bodensätzen in Flaschen und den Geschmack von Etikettenkleber. Normalerweise hatte Abdul nichts dagegen, dass sie überall herumschnüffelten, aber dieser Tage waren sie der wandelnde Dünnschiss – sehr bedrohlich.
Die Ziegen gehörten einem Muslim, der in seiner Hütte einen Puff betrieb und seine Huren für eine Bande Drückebergerinnen hielt. Deshalb hatte er sich auf Diversifizierung verlegt und angefangen, Ziegen zu züchten, um sie als Opfertiere zum Eid zu verkaufen, dem Fest am Ende des Ramadans. Seine Ziegen hatten sich jedoch als ebenso unerquicklich erwiesen wie seine Mädels. Zwölf der zweiundzwanzig Tiere waren gestorben, und die überlebenden hatten ständig Verdauungsprobleme. Der Puffbetreiber bezichtigte die Tamilen, die die örtliche Schnapsbrennerei betrieben, der schwarzen Magie. Andere Annawadier hatten eher die Getränkequelle der Ziegen im Verdacht, den Klärteich.
In diesem Teich ließen die Bauunternehmer, die den Flughafen modernisierten, im Schatten der Dunkelheit alles Mögliche deponieren. In ihm entsorgten aber auch die Annawadier selbst alles Mögliche. Erst kürzlich zwölf Ziegenkarkassen im Zersetzungsprozess. Was immer in diesem Gebräu herumschwimmen mochte, Schweine und Hunde, die an den seichten Stellen geschlafen hatten, wachte mit blauscheckigem Bauch auf. Manche Geschöpfe kamen dagegen gut klar mit dem Teich, und nicht nur die Malariamücken. Am späteren Morgen sah man oft einen Fischer durch die Brühe waten, der mit der einen Hand Zigarettenschachteln und blaue Plastiktüten beiseiteschob und mit der anderen ein Netz über die Oberfläche zog. Seinen Fang brachte er auf den Marol-Markt, er wurde später zu Fischöl verarbeitet, und seit der Westen Fischöl als wertvolles Gesundheitsprodukt entdeckt hatte, stieg die Nachfrage.
Abdul stand auf, schüttelte sich einen Krampf aus der Wade und stellte erstaunt fest, dass der Himmel braun war wie Fliegenflügel und die Sonne durch den Smogschleier den baldigen Nachmittag ankündigte. Beim Müllsortieren vergaß er regelmäßig die Zeit. Seine kleinen Schwestern und Einbeins Töchter spielten mit einem selbstgebastelten Rollstuhl, das war ein kaputter Plastikgartenstuhl zwischen zwei verrosteten Fahrradreifen. Mirchi war aus der Schule zurück und fläzte sich mit einem ungelesenen Mathebuch auf dem Schoß auf der Türschwelle der Familienhütte.
Mirchi wartete ungeduldig auf Rahul, seinen besten Freund. Der junge Hindu wohnte ein paar Hütten weiter und zählte neuerdings zur Prominenz von Annawadi. Rahul hatte nämlich in diesem Monat das geschafft, was Mirchi sich erträumte: Er hatte die Barriere zwischen der Unter- und der Oberstadt, der Slumwelt und der Reichenwelt, niedergerissen.
Rahuls Mutter war Asha, eine Vorschulerzieherin mit geheimnisumwitterten Beziehungen zu Lokalpolitikern und Polizisten. Sie hatte ihm den Job, ein paar Abende als Aushilfe im Intercontinental Hotel auf der andern Seite des Klärteichs, auch beschafft. Rahul – wie Mirchi im neunten Schuljahr, mit Teiggesicht und Zickzackzähnen – hatte jetzt also mit eigenen Augen gesehen, wie opulent es in der Oberstadt zuging.
Endlich kam er, ausstaffiert mit lauter Neuerwerbungen aus den Einnahmen seines Glückstreffers: einer auf den Hüften schlabbernden Cargohose, einer recyclingmäßig gewichtigen, ovalen Hochglanz-Gürtelschnalle, einer bis knapp über die Augen gezogenen Strickmütze. »Hiphop-Style«, in Rahuls Worten. Am Vortag vor sechzig Jahren war Mahatma Gandhi ermordet worden, und einst hatte es bei der indischen Elite als geschmacklos gegolten, den Nationalfeiertag mit extravaganten Events zu begehen. Jetzt nicht mehr. Rahul hatte im Intercontinental bei einer Wahnsinnsparty gejobbt und wusste, dass Mirchi alles haarklein erzählt haben wollte.
»Du weißt, ich könnte dich nie anlügen«, sagte er grinsend. »Auf meiner Saalseite waren fünfhundert Frauen, alle höchstens halb bekleidet – als wären die aus’m Haus gegangen und hätten vergessen, das Unterteil mit anzuziehen!«
»Oh nee, wieso war ich da nicht!«, sagte Mirchi. »Erzähl. Wer Berühmtes dabei?«
»Lauter Berühmtes! War ’ne Bollywood-Party. Ein paar Stars saßen in der VIP -Zone, hinter ’nem Seil, aber John Abraham ist rausgekommen, bis fast zu meinem Revier. Der hatte so ’n dicken blauen Mantel an, und der
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