Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Chauffeure gewartet hatten. »Aus welchem Dorf kommen so Frauen eigentlich?«
»Hör mal, du Trottel«, sagte Rahul gutmütig, »weiße Leute kommen aus allen möglichen Ländern. Du bist ja echt hinterm Mond, wenn du so was Elementares nicht weiß.«
»Was denn für Länder? Amerika?«
Das wusste Rahul auch nicht genau. »Aber es gibt auch ’ne ganze Menge indische Gäste in so Hotels, so viel steht fest.« Und zwar Inder von »gesundem Format« – also groß und fett, nicht so mickrig wie der Nepali und viele andere Kinder hier.
Den ersten Einsatz hatte Rahul bei der Silvesterparty im Intercontinental gehabt. Die Neujahrsgalas in den Mumbaier Luxushotels waren legendär, die Müllsucher hatten oft weggeworfene Prospekte nach Annawadi mitgebracht.
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2008
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12
000
Rupien für zwei Personen inklusive Champagner.
Gedruckt waren solche Werbeprospekte auf Hochglanzpapier, Recyclingfirmen zahlten dafür zwei Rupien, also drei Euro-Cents das Kilo.
Rahul fand die Neujahrsrituale der Reichen aber eher unter- als überwältigend. »Der reine Stumpfsinn«, lautete sein Fazit. »Da stehen Leute einfach in der Gegend rum und trinken und tanzen und benehmen sich genauso dämlich wie hier jeden Abend.«
»So Hotel-Leute werden auch komisch, wenn die was getrunken haben«, erzählte er seinen Freunden. »Gestern Nacht am Ende der Party, da war so ’n Held – sah gut aus, Nadelstreifenanzug, feiner Zwirn. Aber der war voll, hackedicht, und plötzlich fängt der an und stopft sich Brot in die Hosentaschen, in die Sakkotaschen. Dann hat er sich auch noch Brötchen in die Hose gesteckt! Und die sind dann rausgefallen, und er ist auf dem Boden und unterm Tisch rumgerutscht, um sie wieder einzusammeln. Der eine Kellner hat gemeint, der Typ hat bestimmt früher mal gehungert, und mit dem Whiskey ist die Erinnerung wieder hochgekommen. Also, wenn ich mal so reich bin, dass ich in großen Hotels absteigen kann, führ ich mich aber nicht auf wie so ’n Loser.«
Mirchi lachte und stellte Rahul die Frage, die viele Leute im Mumbai des Jahres 2008 bewegte: »Und wie wollen Sie’s anstellen,
Sirrrrr,
dass Sie mal in so einem Hotel bedient werden?«
Aber Rahul war mit den Gedanken schon woanders, ihm war ein grüner Plastikdrachen aufgefallen, der sich hoch oben in einer Pappelfeige am Eingang nach Annawadi verhakt hatte. Der Drachen sah verknickt aus, aber wenn er die Stäbe wieder geradebog, überlegte Rahul, könnte er noch zwei Rupien dafür kriegen. Hauptsache, er machte seinen Anspruch auf den Drachen geltend, bevor irgendein anderer gewinnorientierter Junge auf dieselbe Idee kam.
Dass man ständig neue Geschäftsmodelle ausprobieren musste, hatte Rahul von seiner Mutter Asha gelernt. Abduls Eltern hatten ein bisschen Angst vor ihr. Sie war eine treue Parteisoldatin der Shiv Sena, und die war fest in der Hand von Hindus, die in Maharashtra geboren waren, dem Bundesstaat, in dem Mumbai lag. Als die Bevölkerung von Groß-Mumbai auf 20 Millionen anzuwachsen drohte, wurde auch die Konkurrenz um Jobs und Wohnraum schärfer, und die Shiv Sena hetzte gegen Migranten aus anderen Bundesstaaten, weil die angeblich von Dingen profitierten, die nur gebürtigen Maharashtrianern rechtmäßig zustanden. (Der Parteigründer Bal Thackeray war inzwischen zweiundachtzig und hatte von jeher ein gewisses Faible für Hitlers Vorstellungen von ethnischer Säuberung.) Zurzeit machte die Shiv Sena massiv mobil mit der Forderung, alle Zuwanderer aus Indiens armen Nordstaaten abzuschieben. Ihre Feindseligkeit gegenüber der muslimischen Minderheit hatte jedoch eine längere und gewalttätigere Vorgeschichte. Und dadurch waren die muslimischen Husains mit ihren Wurzeln im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh gleich doppelt im Visier der Partei.
Die Freundschaft zwischen Rahul und Mirchi setzte sich über derlei ethnische und religiöse Grenzen locker hinweg. Mirchi brüllte Rahul manchmal mit geballter Faust den Shiv-Sena-Gruß »Jai Maharashtra!« entgegen, einfach um ihn zum Lachen zu bringen. Auch äußerlich wurden die beiden gleichaltrigen Jungen sich immer ähnlicher, nachdem sie sich beide Ponys hatten wachsen lassen, sogar die langen weichen Locken streiften sie sich beide genauso aus den Augen wie der
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