Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Abfallankäufe von zwei Wochen, wobei ihm das fleckige Hemd die knorrige Wirbelsäule hochrutschte.
Im Allgemeinen hatte er seinen Nachbarn gegenüber die Einstellung: »Je besser ich euch kenne, desto unsympathischer finde ich euch und ihr mich umgekehrt auch. Also bleiben wir lieber jeder für sich.« Wenn er allerdings wie an diesem Morgen ganz in seiner Arbeit aufging, konnte er sich sogar vorstellen, Seite an Seite mit seinen annawadischen Kollegen zu schuften.
Annawadi lag knapp zweihundert Meter neben der Airport Road, der Trennlinie, an der das neue Indien und das alte Indien aufeinanderprallten und das neue Indien kurz ins Hintertreffen geriet. Die Fahrer in den Geländewagen hupten erbost, wenn wieder mal die Botenjungen vom Hühnerladen im Slum auf ihren Fahrrädern ausschwärmten, ein Gestell mit dreihundert Eiern auf dem Gepäckträger. Annawadi selbst war nichts Besonderes, ein Slum wie alle anderen in Mumbai. Die Häuser waren windschief, alles, was ein bisschen weniger windschief war, sah folglich aus wie gerade. Und Klärteich und Kranksein sahen aus wie das Leben.
Der Slum war 1991 von einem Trupp Saisonarbeiter errichtet worden, die aus dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu angekarrt worden waren, um eine Startbahn auf dem internationalen Flughafen auszubessern. Nach getaner Arbeit hatten sie jedoch beschlossen dazubleiben, dicht beim Flughafen und den verlockenden Aussichten auf weitere Baustellen. In einer Gegend, in der herrenloser Grund und Boden kaum noch vorhanden war, schien eine matschige Brache voller Schlangen und Gestrüpp direkt an der Straße zum internationalen Terminal nicht der schlechteste Ort zum Leben.
Anderen armen Leuten war die Stelle zu feucht zum Wohnen, die Tamilen dagegen machten sich an die Arbeit, hackten das Gestrüpp weg, in dem die Schlangen hausten, schaufelten Dreck aus trockeneren Ecken zusammen und füllten das Schlammloch damit auf. Nach einem Monat kippten die Bambusstangen schon nicht mehr vornüber, kaum dass sie sie in den Boden gerammt hatten. Sobald sie sicher hielten, wurden leere Zementsäcke als Decke darübergespannt, und so entstand allmählich eine Siedlung. Den Namen gaben ihr die Bewohner der Nachbarslums: Annawadi – Land der
annas,
eine respektvolle tamilische Bezeichnung für große Brüder. Für tamilische Migranten waren sonst eher weniger respektvolle Bezeichnungen in Umlauf. Aber die anderen armen Unterstädter hatten gesehen, wie die Tamilen mit viel Schweiß den Morast in festen Boden verwandelt hatten, und dass sie so schuften konnten, hatte ihnen eine gewisse Hochachtung eingetragen.
Siebzehn Jahre später galt in diesem Slum nach offiziellen indischen Maßstäben niemand mehr als arm. Die Annawadier gehörten sogar zu den etwa hundert Millionen Indern, die nach 1991 von Armut befreit worden waren. Seit diesem Zeitpunkt, also etwa seit der Gründung des kleinen Slums, trieb die indische Bundesregierung die Liberalisierung der Wirtschaft energisch voran. Und so wurden die Annawadier Teil einer der mitreißendsten Erfolgsstorys in der modernen Geschichte des globalen Marktkapitalismus, ein Narrativ, das noch lange nicht zu Ende erzählt ist.
Sicher, nur sechs der dreitausend Einwohner des Slums hatten einen festen Job. (Der Rest gehörte wie 85 Prozent aller indischen Arbeiter zur informellen, unorganisierten Ökonomie.) Sicher, ein paar Bewohner stellten Fallen auf, um zum Abendessen wenigstens eine Ratte oder einen Frosch in der Pfanne zu haben. Ein paar aßen Grasbüschel vom Rand des Klärteichs. Aber genau damit leisteten diese Einzelnen, diese bedauernswerten Seelen, einen unschätzbaren Beitrag für die Nachbarschaft: Sie verschafften Slumbewohnern wie Abdul, die sich nicht von Rattenbraten und Unkraut ernähren mussten, das sichere Gefühl, selbst auf dem Weg nach oben zu sein.
Im Winter kotzten der Flughafen und die Hotels den Müll regelrecht aus, dann war Hochsaison für Tourismus, Geschäftsreisen und pompöse Hochzeitsfeiern, die in ihrer Maßlosigkeit ein ziemlich genaues Abbild der Börse des Jahres 2008 und ihres bis dato höchsten Hochs waren. Noch lukrativer für Abdul waren die Olympischen Spiele im kommenden Sommer in Peking, denn der Bauwahn in China trieb die Schrottpreise weltweit in die Höhe. Goldene Zeiten für einen Mumbaier Müllhändler. Nicht dass irgendein Passant ihn so tituliert hätte. Manche sagten einfach Müll und ließen den Rest des Wortes weg.
An diesem Morgen las Abdul Schrauben
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