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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Filmstar Ajay Devgan.
    Abdul war neidisch auf ihre innige Verbindung. Er hatte nur so eine Art Freund, Kalu. Der war fünfzehn, obdachlos und klaute Zeug aus Recyclingtonnen auf dem Flughafengelände. Aber Kalu arbeitete nachts, wenn Abdul schlief, und so redeten sie kaum noch miteinander.
    Die tiefste Zuneigung empfand Abdul für seinen zweijährigen Bruder Lallu, und darüber kam er allmählich ins Grübeln. Wenn man Bollywood-Liebesliedern glaubte, konnte das nur heißen, dass sein Herz zu klein geraten war. Nach einem Mädchen hatte er sich jedenfalls noch nie verzehrt, und dass er seine Mutter liebte, stand zwar fest, aber ein überströmendes Gefühl war das auch nicht gerade. Lallu dagegen brauchte er nur anzusehen, und schon schossen ihm die Tränen in die Augen. So schreckhaft er selbst war, so unerschrocken war der Kleine mit seinen Bäckchen und seinem Hinterköpfchen voller geschwollener Rattenbisse.
    Aber was hätte Abdul dagegen tun können? In Blütezeiten wie dem Januar war sein Lagerverschlag überfüllt, dann türmte der Müll sich eben auch in der Hütte, und mit ihm kamen die Ratten. Wenn er den Dreck draußen liegenließ, klauten ihn die Müllsucher, und Abdul kaufte ausgesprochen ungern denselben Dreck zweimal.
     
    Gegen drei Uhr nachmittags war Abdul zu den Kronkorken vorgedrungen, sortiertechnisch besonders unangenehmes Zeug. Manche hatten Plastikeinlagen innen, die mussten erst rausgekratzt werden, bevor die Blechdeckelchen auf den Aluminiumhaufen durften. Was reiche Leute wegschmissen, wurde von Jahr zu Jahr undurchsichtiger, es gab immer öfter Mischstoffe, Fremdmaterial, Imitate. Bohlen sahen aus wie aus Holz, waren aber mit Plastik versetzt. In welche Kategorie gehörte eigentlich Luffaschwamm? Die Besitzer der Recyclingfirmen nahmen doch nur die eindeutigen Abfälle, sortenrein.
    Seine Mutter hockte neben ihm und bearbeitete einen Stapel nasse schmutzige Kleider mit einem Stein. Sie sah zornig hinüber zu Mirchi, der auf der Schwelle döste. »Was ist? Schulferien?«, fragte sie.
    Zehrunisa erwartete von Mirchi, dass er das neunte Schuljahr schaffte, schließlich bezahlten sie dreihundert Rupien pro Jahr für diese drittklassige urdusprachige Privatschule. Die Ausgabe musste sein, denn Gratisbildung für die breite Masse gehörte nicht zu den Stärken im Repertoire der indischen Regierung. Die städtische Schule am Flughafen kostete zwar nichts, aber sie endete mit der achten Klasse, und da blieben oft auch die Lehrer einfach weg.
    »Entweder du lernst oder du hilfst deinem Bruder«, fuhr sie ihn an. Mirchi warf einen Blick auf Abduls Recyclinghaufen und klappte sein Mathebuch auf.
    In letzter Zeit fand Mirchi schon den Anblick von Müll deprimierend, und Abdul hatte sich fest vorgenommen, ihm das nicht übelzunehmen. Er gab sich Mühe, auf dasselbe zu hoffen wie seine Eltern: Mit einem Realschulabschluss hätte sein ausgesprochen schlauer und charmanter Bruder einen dicken Trumpf gegen die Benachteiligung von Muslimen auf dem Arbeitsmarkt in der Hand. Es hieß zwar immer, Mumbai sei kosmopolitischer und meritokratischer als alle anderen Städte in Indien, aber Muslimen blieben viele gute Jobs trotzdem auch weiter versperrt, gerade in den Luxushotels, wo Mirchi so gern arbeiten wollte.
    Eigentlich fand Abdul es ganz vernünftig, dass sich die Menschen in einer polyglotten Stadt auch so sortierten, wie er seinen Müll sortierte, Gleiches zu Gleichem. In Mumbai lebten einfach zu viele Leute, als dass es für jeden einen Job gab, warum sollten Hindus der Kunbi-Kaste aus Maharashtra die nicht lieber anderen Kunbis aus Maharashtra geben als einem Muslim mit Vorfahren im Müllgeschäft? Mirchi hielt dagegen, heutzutage würden sich alle Leute untereinander vermischen und die alten Vorurteile nicht mehr so gelten und Abdul das bloß nicht mitkriegen, er stecke ja bloß den ganzen Tag mit dem Kopf in Müllhaufen.
    Abdul sortierte jetzt, so schnell er konnte, er wollte unbedingt vor der Dämmerung fertig sein, bevor die bärenstarken Hindu-Jungs zum Kricketspielen kamen und seine sortierten Stapel als Ziel nahmen, manchmal auch seinen Kopf. Diese Kricketjungen stellten Abduls Konfliktvermeidungsstrategien auf eine harte Probe. Bisher hatte er sich nur ein einziges Mal zu einer körperlichen Auseinandersetzung hinreißen lassen, als zwei Bengel einen von seinen kleinen Brüdern mit Rasenklumpen bombardiert hatten, aber die waren gerade mal zehn Jahre alt gewesen. Die Kricketspieler hier hatten

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