Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
gezogen war. Er konnte sie gar nicht nicht kennen, denn ihre Hütten waren nur durch ein Laken voneinander getrennt. Schon damals hatte er Probleme mit ihrem Geruch gehabt. Einbein war arm, aber trotzdem immer irgendwie parfümiert. Abduls Mutter Zehrunisa dagegen roch nach Muttermilch und gebratenen Zwiebeln, und sie missbilligte so was.
Seit der Zeit mit dem Laken war Abdul sicher, dass seine Mutter in den meisten Fällen recht hatte. Sie war zärtlich zu ihren Kindern und spielte mit ihnen, und nach Ansicht ihres ältesten Sohns Abdul war ihr einziger wunder Punkt, ihre Art zu feilschen. Im Müllgeschäft waren drastische Lästereien beim Schachern zwar die Regel, aber für Abduls Geschmack befolgte seine Mutter diese Regel allzu schwelgerisch.
»Du dämlicher Loddel mit deinem Zitronenhirn!«, bellte sie mit gespielter Empörung. »Glaubst du etwa, ohne deine Büchsen verhungern meine Babys? Eigentlich müsst ich dir die Hose runterziehen und den Kleinkram wegsäbeln, den du da drin hast!«
Und das aus dem Mund einer Frau, die in irgendeinem weltfernen Dorf dazu erzogen worden war, Burka zu tragen und unterwürfig zu sein.
Abdul, der sich für »altmodisch, zu neunzig Prozent« hielt, fuhr seiner Mutter oft über den Mund. »Was würde dein Vater wohl sagen, wenn er dich so auf der Straße rumpöbeln hört?«
»Zusammenstauchen würd der mich«, konterte Zehrunisa eines Tages, »dabei hat er mich doch in diese Ehe mit einem kranken Mann getrieben. Hätt ich still und brav zu Hause gesessen wie meine Mutter, dann wär’n die Kinder hier alle verhungert.«
Den wunden Punkt seines Vaters wagte Abdul nicht zur Sprache zu bringen: Karam Husain war zu krank, um nennenswerte Mengen Müll zu sortieren, aber nicht so krank, die Finger von seiner Frau zu lassen. Die wahhabitische Sekte, in der er aufgewachsen war, lehnte jede Art von Empfängnisverhütung ab, und von den zehn Kindern, die Zehrunisa zur Welt gebracht hatte, waren neun am Leben.
Zehrunisa tröstete sich bei jeder neuen Schwangerschaft mit dem Gedanken, dass sie eine zusätzliche zukünftige Arbeitskraft produzierte. Abdul dagegen, die Arbeitskraft der Gegenwart, wurde bei jedem neu erwarteten Geschwisterchen besorgter. Dann machte er Fehler, zahlte den Müllsuchern zu viel Geld für Säcke voll wertlosem Krempel.
»Mach langsam«, hatte sein Vater ihm sanft geraten. »Du musst Nase, Mund und Ohren benutzen, nicht bloß deine Waage.« Klopf Metallschrott mit dem Fingernagel ab. Du hörst am Klang, was genau das ist. Kau auf Plastik herum, um die Dichte herauszufinden. Hartplastik steckst du halb in den Mund und holst Luft. Wenn es frisch riecht, ist es hochwertiges Polyurethan.
Und Abdul hatte gelernt. Nach einem Jahr war genug zu essen da. Nach einem weiteren war auch ein bewohnbareres Zuhause da. An die Stelle des Lakens trat erst eine Trennwand aus Wellblechresten und später eine Mauer aus ausgemusterten Ziegelsteinen, die sein Zuhause zum solidesten Gebäude der ganzen Reihe machte. Beim Gedanken an diese Steinmauer überfielen Abdul allerdings immer gemischte Gefühle: zum einen Stolz, zum anderen Furcht, womöglich waren die Steine ja so minderwertig, dass die Wand bald wegbröckelte, aber drittens auch Erleichterung, weil seine Sinne geschont wurden. Es gab jetzt eine fast zehn Zentimeter dicke Barriere zwischen ihm und Einbein, die Liebhaber empfing, während ihr Mann irgendwo anders Müll sortierte.
Seit ein paar Monaten hatte Abdul von ihr nur noch Notiz nehmen müssen, wenn sie auf dem Weg zum Markt oder zur öffentlichen Toilette mit ihren Metallkrücken vorbeigeklackert kam. Die Krücken schienen zu kurz zu sein, denn Einbein streckte beim Gehen immer den Hintern raus – und schwenkte ihn so durch die Gegend, dass die Leute lachten. Ihr Lippenstift sorgte für weitere Heiterkeit.
Die malt sich sogar ’n Gesicht, wenn sie bloß aufs Scheißhaus latscht?
An manchen Tagen war ihr Mund orangerot, an anderen purpurrot, als wäre sie auf den Jambolana-Pflaumenbaum beim Hotel Leela geklettert und hätte ihn kahlgefressen.
Eigentlich hieß sie Sita. Sie war hellhäutig, normalerweise ein Pluspunkt, aber ihr eines verkümmertes Bein hatte den Brautpreis massiv gedrückt. Ihre hinduistischen Eltern hatten das einzige überhaupt abgegebene Angebot angenommen. Es kam von einem armen, unansehnlichen, schwer schuftenden alten Muslim – »der war schon halbtot, aber sonst wollt sie ja keiner«, hatte die Mutter einmal naserümpfend verkündet.
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