Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Abdul, seine ältere Schwester Kekhashan und seinen Vater beschuldigt, sie erst geschlagen und dann angezündet zu haben.
Abdul erinnerte sich später genau, dass die Worte der Polizisten gleichsam wie in einem Fiebertraum durch die Wand zu ihm in den Lagerraum gedrungen waren. Einbein hatte also auch seine Schwester beschuldigt. Dafür wünschte er ihr den Tod, was er sofort wieder bereute. Denn wenn Einbein tot wäre, säße seine Familie noch tiefer in der Patsche.
Wer arm war in Annawadi, überhaupt in jedem Mumbaier Slum, war automatisch schuldig, welches Vergehens auch immer. Abdul kaufte manchmal gestohlenen Metallschrott von Müllsuchern. Er betrieb ein Geschäft, für das es gar keinen Gewerbeschein gab. Allein in Annawadi zu leben war strafbar, seit die Flughafenbehörde illegale Bewohner wie ihn da weghaben wollte. Aber niemand von seiner Familie hatte Einbein Verbrennungen zugefügt. Sie hatte sich selbst angezündet.
Japsend und mit seiner lungenschwachen Stimme beteuerte Abduls Vater, dass seine Familie unschuldig war, als die beiden Polizisten ihn abführten. »Und Ihr Sohn, wo ist der?«, fragte der eine laut, direkt vor der Tür zu Abduls Lager. Die Lautstärke war ausnahmsweise nicht als Machtdemonstration gemeint. Er wollte wohl einfach das Jammern von Abduls Mutter übertönen.
Zehrunisa Husain hatte auch in guten Zeiten nahe am Wasser gebaut, Tränen waren eins ihrer Lieblingsmittel zur Gesprächseröffnung. Aber jetzt schluchzte sie heftiger als gewöhnlich, weil auch ihre Kinder schluchzten. Die kleinen Husains hingen noch mit argloserer Liebe an ihrem Vater als Abdul, und sie würden die Nacht, in der die Polizei kam und ihn mitnahm, nie vergessen.
Zeit verstrich. Das Jammern verklang. »In einer halben Stunde ist er zurück«, erzählte Zehrunisa den Kindern in schrillem Singsang, einem der Tonfälle, in denen sie log. Trotzdem schöpfte Abdul beim Wort
zurück
wieder etwas Mut. Offenbar waren die Polizisten erst mal weg aus Annawadi, nachdem sie seinen Vater festgenommen hatten.
Es war zwar nicht ganz auszuschließen, dass sie zurückkommen und auch nach ihm suchen würden. Aber nach allem, was er über den Energiehaushalt von Mumbaier Polizisten wusste, war es wahrscheinlicher, dass sie für diesen Tag Feierabend machten. Das verschaffte ihm drei, vier weitere Stunden Dunkelheit zum Schmieden von Fluchtplänen, die mehr brachten, als sich bloß in der Hütte nebenan zu verkriechen.
Abdul fühlte sich durchaus imstande zu gewagten Unternehmungen. Insgeheim bildete er sich zum Beispiel etwas darauf ein, dass die ewige Müllsortiererei seinen Händen schier tödliche Kräfte verliehen hatte – dass er einen Ziegelstein mit einem Hieb halbieren könnte wie Bruce Lee. »Komm, wir holen mal einen«, hatte ein Mädchen gesagt, vor dem er einmal unklugerweise damit angegeben hatte. Er hatte sich schnell rausgeredet. Schließlich wollte er seinen Glauben still für sich hegen und nicht auf die Probe stellen.
Mirchi, sein zwei Jahre jüngerer Bruder, war entschieden kühner, er hätte sich nicht in dem Verschlag versteckt. Mirchi war ein Fan von Bollywood-Filmen, in denen Outlaws mit blanker Brust aus Hochhausfenstern springen und über die Dächer von fahrenden Zügen rennen, verfolgt von um sich ballernden Polizisten, die nie treffen. Abdul dagegen nahm sich jede bedrohliche Situation in jedem Film zu Herzen. Er hatte auch noch immer lebhaft im Kopf, wie er eines Abends mit einem anderen Jungen gut einen Kilometer weit zu einer Hütte gegangen war, in der immer raubkopierte Videos liefen. Der Film spielte in einer Villa, und in deren Keller hauste ein Monster – eine pelzige, orangegelbe Kreatur, die sich von Menschenfleisch ernährte. Abdul hatte dem Besitzer der Videobude hinterher zwanzig Rupien zahlen müssen, um bei ihm auf dem Boden schlafen zu dürfen, seine Beine waren vor lauter Angst so steif gewesen, dass er nicht mehr nach Hause gehen konnte.
Aber so peinlich es ihm auch war, wenn andere Jungen mitbekamen, dass er Angst hatte, es wäre ihm unvernünftig vorgekommen, jemand anders sein zu wollen. Er studierte lieber seine Nachbarn, während er Zeitungen oder Dosen sortierte, Tätigkeiten, bei denen es mehr auf Tasten als auf Sehen ankam. Die Angewohnheit war ein guter Zeitvertreib und brachte ihn auf allerlei Theorien, von denen eine schließlich die Oberhand gewann. Seiner Ansicht nach hingen in Annawadi Glück und Wohlstand nicht nur davon ab, was man machte und wie gut
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