Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Der unmögliche Ehemann hatte Sita den Namen Fatima verpasst, und der missratenen Verbindung waren drei dürre Töchter entsprungen. Die Kränklichste war eines Tages in einem Eimer ertrunken, zu Hause. Dass Fatima gar nicht zu trauern schien, erregte allgemeines Getuschel. Schon ein paar Tage danach war sie wieder außerhalb ihrer Hütte unterwegs, wie immer die Hüften schwenkend und hinter Männern herstarrend, aus goldgesprenkelten Augen, nie mit gesenktem Blick.
In letzter Zeit machte in Annawadi überhaupt jeder viel zu sehr, wozu er Lust hatte, so kam es Abdul jedenfalls vor. Seit Indien prosperierte, waren die alten Vorstellungen, dass man das Leben so anzunehmen hatte, wie die eigene Kaste und die eigenen Götter es vorgaben, mehr und mehr dem neuen Glauben gewichen, man könne sich auf Erden einfach neu erfinden. Mittlerweile redeten auch Annawadier so locker von besserer Lebensqualität, als wäre Fortuna eine nette Tante, die nächsten Sonntag zu Besuch kommt, als hätte die Zukunft nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Vergangenheit.
Sein Bruder Mirchi zum Beispiel hatte nichts im Sinn mit Müllsortieren. Er sah sich lieber in einer gestärkten Uniform zum Dienst in einem Luxushotel antreten. Er hatte von Kellnern gehört, die den ganzen Tag lang bloß Zahnstocher in Käsewürfel steckten oder Messer und Gabeln korrekt auf Tischen plazierten. So einen sauberen Job wollte er auch. »Wart’s ab!«, blaffte er einmal seine Mutter an. »Irgendwann hab ich ein Badezimmer, so groß wie die ganze Hütte hier!«
Oder Raja Kamble, ein kränkelnder Klomann, der auf dem Slumweg hinter den Husains wohnte. Sein Traum war eine Wiedergeburt durch Medizin. Eine neue Klappe für sein kaputtes Herz, damit könnte er überleben und seine drei Kinder zu Ende aufziehen. Oder Meena mit den konservativen, zu Gewalt neigenden Alten, sie war fünfzehn und entschieden schärfer auf den Geschmack von Freiheit und Abenteuer, den sie aus Fernsehserien kannte, als auf eine arrangierte Ehe und häusliche Unterwerfung. Oder Sunil, der Müllsucher, viel zu klein für seine zwölf Jahre, er wollte einfach genug zu essen haben, um endlich zu wachsen. Asha, eine Frau vom Kaliber eines Kampfhahns, die neben der öffentlichen Toilette lebte, hatte ganz andere Ambitionen. Sie sehnte sich danach, Annawadis erster weiblicher Slumlord zu werden und auf der Welle der unaufhaltsamen Korruption bis hoch in die Mittelschicht zu reiten. Ihre Tochter Manju verfolgte dagegen ein in ihren Augen hehreres Ziel: Sie wollte Annawadis erster weiblicher Teenager mit Collegeabschluss werden.
Die absurdesten Träume von allen aber hatte Einbein. Das fand jeder. Sie interessierte sich vorrangig für außerehelichen Sex, und zwar nicht bloß wegen des Kleingelds. Das hätten die Nachbarn noch verstanden. Doch Einbein wollte via Sex hinauswachsen über das Gebrechen, das die anderen ihr als Namen angehängt hatten. Sie wollte respektiert und attraktiv gefunden werden. Die Annawadier empfanden derlei Begehr als unangemessen für einen Krüppel.
Abdul selbst wollte einfach nur eine Frau, die keinen Schimmer von Wörtern wie
Loddel
und
Schwesterficker
hatte und der es nicht viel ausmachte, wie er roch, und irgendwann irgendwo ein Zuhause, Hauptsache nicht in Annawadi. Und wie die meisten Menschen im Slum und übrigens auf der ganzen Welt glaubte auch er, dass seine Träume im Einklang mit seinen Fähigkeiten standen.
Inzwischen war die Polizei in Annawadi. Sie kamen über den Maidan auf sein Zuhause zu. Das mussten Polizisten sein. Slumbewohner hatten keinen so selbstgewissen Tonfall.
Die Husains kannten etliche der Beamten von der zuständigen Polizeiwache Sahar. Genügend, um Angst vor allen zu haben. Sobald die mitkriegten, dass im Slum eine Familie zu Geld gekommen war, kreuzten sie alle paar Tage auf und pressten ihr etwas ab. Der Schlimmste von dem ganzen Haufen war Constable Pawar, er hatte die obdachlose kleine Deepa, die vor dem Hyatt-Hotel Blumen verkaufte, schwer misshandelt. Aber auch die meisten seiner Kollegen würden einem mit Freuden noch auf das letzte Stück Brot rotzen.
Abdul hatte sich innerlich für den Moment gewappnet, in dem die Polizisten den Fuß in die Hütte seiner Familie setzen würden, er war gefasst auf schreiende kleine Kinder und umgerissene polternde Edelstahltöpfe. Diese beiden Polizisten waren jedoch völlig ruhig, teilten geradezu freundlich die wesentlichen Fakten mit. Einbein hatte überlebt und im Krankenhaus
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