Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
Vom Netzwerk:
um Preise war Abduls Mutter der Star der Familie. Müllsucher, die zu viel für ihren Dreck haben wollten, deckte sie mit deftigen Pöbeleien regelrecht ein. Abdul dagegen tat sich schwer mit Worten und redete langsam. Sein Metier war das Müllsortieren – das äußerst wichtige Verfahren, mit dem er die jeweiligen Ankäufe akkurat in über sechzig Kategorien wie Papier, Plastik, Metall unterteilte, um sie gezielt verkaufen zu können.
    Natürlich war er schnell. Er sortierte Müll ungefähr seit seinem sechsten Lebensjahr, denn die Tuberkulose und die Arbeit mit dem Müll hatten seinem Vater die Lunge ruiniert. Abdul verdankte sein ganzes motorisches Geschick allein dem Sortieren von Abfällen.
    »Du wolltest ja sowieso nicht mehr zur Schule«, hatte sein Vater neulich festgestellt. Abdul war nicht sicher, ob er überhaupt lange genug in einer Schule gewesen war, um irgendetwas beurteilen zu können. Vor langer Zeit hatte er mal ein paar Jahre in einem Klassenzimmer gesessen, aber viel los gewesen war da nicht. Danach hatte es nur noch Arbeit gegeben. Arbeit, die so viel Dreckluft aufwirbelte, dass ihm schwarzer Rotz aus der Nase lief. Arbeit, die noch langweiliger als schmutzig war. Arbeit, von der er annahm, sie sein Leben lang zu tun. Meistens drückte ihn diese Aussicht nieder wie ein Urteilsspruch. An diesem Abend aber, als er sich vor der Polizei versteckte, fühlte sie sich an wie Hoffnung.
     
    Der Brandgeruch war hier im Verschlag nicht mehr so deutlich wahrzunehmen, hier wetteiferte der Müllgestank mit dem Angstschweiß, der ihm in den Kleidern hing. Abdul zog Hemd und Hose aus und stopfte sie hinter einen kippelnden Zeitungsstapel an der Tür.
    Am besten war, überlegte er, oben auf den verknäulten Müllberg zu klettern und sich dicht an der Rückwand einzubuddeln, in zwei Metern fünfzig Höhe und größtmöglicher Entfernung zur Tür. Er war wendig, bei Tageslicht kam er in nur fünfzehn Sekunden auf den geschickt ausbalancierten Haufen. Aber jetzt im Dunkeln konnte ein einziger Fehltritt einen Erdrutsch aus Flaschen und Dosen auslösen, und der würde in alle Welt hinausposaunen, wo er steckte, denn die Hütten standen Wand an Wand, und Wände waren hier dünn.
    Von rechts war ein beunruhigendes leises Schnarchen zu hören. Es kam von einem mundfaulen Cousin, der frisch aus dem Dorf zugezogen war und vermutlich davon ausging, dass in der Stadt täglich Frauen brannten. Abdul schob sich nach links und tastete in der totalen Finsternis nach einem Haufen blauer Polyurethansäcke. Die reinsten Schmutzmagneten, diese Säcke. Die sortierte er überhaupt nicht gern. Aber er erinnerte sich, dass er ein Bündel davon auf einen Stapel auseinandergefalteter, feuchter Pappkartons geworfen hatte – ideal für einen lautlosen Aufstieg.
    Er ertastete Sackbündel und Pappstapel an der anderen Wand, die seinen Verschlag von der Familienhütte trennte. Er hievte sich hoch und wartete. Die Pappen pressten sich zusammen, Ratten gruppierten sich um, aber zum Glück schepperte nichts Metallisches zu Boden. Jetzt konnte er sich an der Seitenwand abstützen und über den nächsten Schritt des Balanceakts nachdenken.
    Jenseits der Wand schlurfte jemand herum. Sein Vater höchstwahrscheinlich. Bestimmt hatte er den Schlafanzug schon ausgezogen, das Polyesterunterhemd hing ihm schlackernd von den Schultern, und er musterte eine Handvoll Tabakkrümel. Und bestimmt hatte er den ganzen Abend lang mit seinem Tabak herumgespielt, hatte ihn mit dem Finger zu Kreisen, Dreiecken und wieder Kreisen zurechtgeschoben. Das tat er immer, wenn er nicht wusste, was er tun sollte.
    Noch ein paar Schritte, ein lästiges Scheppern, und Abdul war bis zur Rückwand vorgedrungen. Er streckte sich aus. Und bereute sofort, seine lange Hose nicht mehr anzuhaben. Moskitos. Die Kanten von aufgerissenen Plastik-Blisterverpackungen, die ihm von unten in die Oberschenkel schnitten.
    Ein bitterer Brandgeruch hing in der Luft, aber es roch weniger nach Fleisch als nach Petroleum und verschmorter Sandale. Hätte Abdul ihn auf einem der Slumwege aufgeschnappt, sein Magen hätte sich nicht zusammengezogen. Es war geradezu Orangenblütenduft, verglichen mit dem verrottenden Hotelessen, das nachts in Annawadi ausgekippt wurde und dreihundert kotverklebte Schweine ernährte. Jetzt reagierte sein Magen so heftig, weil er genau wusste, was da roch – oder vielmehr wer.
    Abdul kannte Einbein seit jenem Tag vor acht Jahren, an dem seine Familie nach Annawadi

Weitere Kostenlose Bücher