Anne in Avonlea
und lieben Menschen. Nachdem sie einander kurz zugelächelt hatten, waren Anne und Paul auf immer Freunde, noch ehe sie überhaupt ein Wort gewechselt hatten.
Der Tag verging wie im Traum. Anne konnte sich später nie in allen Einzelheiten daran erinnern. Ihr kam es vor, als unterrichtete nicht sie selbst, sondern eine andere. Sie erklärte, rechnete und schrieb mechanisch. Die Kinder führten sich ganz ordentlich auf, von zwei Zwischenfällen einmal abgesehen. Morley Andrews erwischte sie dabei, wie er ein Grillenpärchen über den Gang scheuchte. Anne stellte Morley zur Strafe eine Stunde lang nach vorn ans Pult, was Morley nur umso aufgekratzter machte, und beschlagnahmte seine Grillen. Sie legte sie in eine Schachtel und setzte sie auf dem Nachhauseweg im Veilchental aus. Aber Morley war nicht davon abzubringen, dass sie sie mit nach Hause genommen hätte und sie sie zu ihrem eigenen Vergnügen behielt.
Der andere Übeltäter war Anthony Pye, der die letzten paar Tropfen Wasser aus seinem Wasserbehälter Aurelia Clay hinten in den Kragen schüttete. In der Pause rief Anne Anthony zu sich und erklärte ihm, wie ein Gentleman sich zu benehmen hätte, und belehrte ihn, dass er niemals Damen Wasser in den Kragen schütten dürfe. Sie wünsche, dass alle Jungen sich wie Gentlemen aufführten, sagte sie. Ihre Strafpredigt war durchaus freundlich und rührend, aber Anthony ließ sie leider vollkommen ungerührt. Er hörte ihr mit einem mürrischen Gesichtsausdruck schweigend zu und pfiff verächtlich, als er hinausging. Anne seufzte. Dann jedoch rief sie sich zu ihrer Ermunterung ins Gedächtnis, dass, ebenso wie Rom nicht an einem einzigen Tag erbaut worden war, man nicht an einem Tag die Zuwendung eines Pye gewinnen konnte. Und es war zu bezweifeln, ob das bei manchen Pyes überhaupt möglich war. Aber bei Anthony hatte Anne die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Vielleicht entpuppte er sich ja als ein ganz netter Bursche, wenn man ihm sein mürrisches Wesen auszutreiben vermochte.
Als die Schule aus war und die Kinder fort waren, sank Anne erschöpft in ihren Stuhl. Der Kopf tat ihr weh und sie fühlte sich jämmerlich entmutigt. Dazu gab es eigentlich gar keinen Grund, denn es war nichts Schlimmes vorgefallen. Aber Anne war sehr müde und glaubte schon fast, dass ihr die Schule nie Spaß machen würde. Wie furchtbar musste es sein, eine Arbeit zu tun, zu der man tagein, tagaus - nun, sagen wir vierzig Jahre lang - keine Lust hatte. Anne schwankte, ob sie auf der Stelle losheulen oder ob sie damit warten sollte, bis sie in ihrem Zimmer zu Hause war. Noch ehe sie einen Entschluss gefasst hatte, hörte sie draußen in der Vorhalle Schritte und das Knistern und Rascheln eines Seidenkleides. Anne sah sich einer Dame gegenüber, deren Erscheinung sie an eine vor kurzem gemachte kritische Bemerkung von Mr Harrison erinnerte, bezüglich eines allzu aufgedonnerten Frauenzimmers, das er in einem Laden in Charlottetown gesehen hätte. »Sie sah aus wie ein Frontalzusammenstoß zwischen einer Modepuppe und einem Schreckgespenst.«
Die Fremde trug ein auffallend hellblaues, seidenes Sommerkleid voller Rüschen und Krausen und hatte einen riesigen weißen Chiffonhut auf, geschmückt mit drei langen, schlanken Straußenfedern. Ein Schleier aus rosafarbenem Chiffon mit vielen großen schwarzen Punkten hing von der Hutkrempe bis auf die Schultern und schwebte wie zwei leichte flatternde Bänder hinterdrein. Sie trug so viel Schmuck, wie an einer einzelnen Frau nur irgend unterzubringen war, und ein strenger Duft nach Parfüm begleitete sie.
»Ich bin Mrs Donnell... Mrs H. B. Donnell«, verkündete sie. »Ich bin hier, um mich bei Ihnen nach etwas zu erkundigen, das mir Clarice Almira erzählte, als sie gestern zum Essen nach Hause kam. Es hat mich unmäßig geärgert.«
»Das tut mir Leid«, stotterte Anne und versuchte vergebens sich an einen morgendlichen Vorfall zu erinnern, in den die Donnell-Kinder verwickelt gewesen wären.
»Clarice Almira hat mir erzählt, Sie würden unseren Namen Donnell aussprechen. Nun, Miss Shirley, die korrekte Aussprache unseres Namens lautet Don nell - die Betonung auf der letzten Silbe. Ich hoffe, dass Sie in Zukunft daran denken.«
»Ich werde mich bemühen«, japste Anne und hätte am liebsten losgelacht. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie unangenehm es ist, wenn der Name falsch geschrieben wird, es muss noch viel schlimmer sein, wenn er falsch ausgesprochen wird.«
»Ja, das ist es. Und
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