Anne in Avonlea
in einer Biegung an einem Fichtenwald vorbei, windet sich durch eine Anpflanzungjunger Ahornbäume, unter denen gefiederter Farn wächst, taucht dann in eine Senke hinab, wo plötzlich ein Bach auftaucht und wieder im Wald verschwindet, und liegt schließlich zwischen Goldruten und rauchblauen Astern im hellen Sonnenlicht da. Die Luft sirrt vom Gezirpe von Myriaden von Grillen, den zufriedenen kleinen Sommergästen auf den Hügeln; ein behäbiges braunes Pferd trottet gemächlich den Weg entlang; zwei Mädchen folgen ihm, erfüllt von den einfachen, unschätzbaren Freuden der Jugend und des Lebens. »Ach, dies ist ein Tag wie im Paradies, nicht wahr, Diana?«, seufzte Anne vor purem Glück. »Ein Zauber liegt in der Luft. Sieh einmal das Purpur in der Mulde dort im Tal, Diana. Und riechst du den Duft der harzigen Tannen? Er dringt von der kleinen sonnigen Senke herauf, wo Mr Eben Wright Zaunpfähle zurechtgeschnitten hat. Glück heißt einen solchen Tag erleben zu dürfen, aber den Duft harziger Tannen zu genießen bedeutet den Himmel. Das stammt zu zwei Dritteln von Wordsworth und zu einem Drittel von Anne Shirley. Im Himmel wird es wohl keine harzigen Tannen geben, nicht wahr? Aber der Himmel wäre nicht vollkommen, könnte man nicht einen Hauch von diesem Duft riechen, wenn man durch die Himmelswälder streift. Ja, ich glaube, so muss es sein. Der herrliche Duft ist die Seele der Tannen -im Himmel gibt es natürlich nur Seelen.«
»Bäume haben keine Seelen«, sagte Diana in ihrer nüchternen Art, »aber der Duft harziger Tannen ist natürlich wunderbar. Ich werde ein Kissen machen und es mit Tannennadeln füllen. Mach du dir doch auch eins, Anne.«
»Ich glaube, das werde ich - für meine Nickerchen. Dann würde ich bestimmt träumen, ich wäre eine Dryade oder eine Waldelfe. Aber im Augenblick bin ich rundum glücklich, Anne Shirley, die Avonlea-Lehrerin, zu sein und an diesem wunderschönen, traumhaften Tag eine Straße wie diese entlangzufahren.«
»Es ist zwar ein angenehmer Tag, aber wir haben alles andere als eine angenehme Aufgabe vor uns«, seufzte Diana. »Warum musstest du vorschlagen, dass ausgerechnet wir diese Straße abklappern, Anne? Fast alle verschrobenen Leute, die es in Avonlea gibt, wohnen entlang dieser Straße. Wahrscheinlich wird man uns behandeln, als wollten wir das Geld für uns selbst erbetteln. Es ist die schlimmste Straße von allen.«
»Deshalb gerade habe ich sie ja ausgesucht. Natürlich hätten auch Gilbert und Fred sie übernommen, wenn wir sie darum gebeten hätten. Aber verstehst du, Diana, ich fühle mich für den D.V.V. verantwortlich, weil es mein Vorschlag war, und dann habe ich gefälligst auch die unangenehmen Aufgaben zu übernehmen. Es tut mir Leid für dich, aber du brauchst kein Wort zu sagen. Ich übernehme das Reden ... Mrs Lynde sagt immer, darauf würde ich mich verstehen. Mrs Lynde weiß nicht so recht, ob sie unseren Verein unterstützen soll oder nicht. Wenn sie bedenkt, dass Mrs und Mr Allan ihn für gut befinden, neigt sie schon dazu, aber die Tatsache, dass die ersten Dorfverschönerungs-Vereine in den Staaten gegründet wurden, spricht dagegen. Also schwankt sie noch, in ihren Augen kann uns nur der Erfolg Recht geben. Priscilla will bis zu unserem nächsten Treffen ein Schreiben aufsetzen. Ich glaube, es wird gut, denn ihre Tante ist Schriftstellerin und bestimmt macht es in der ganzen Familie die Runde. Ich werde mein Lebtag nicht vergessen, wie begeistert ich war, als ich herausfand, dass Mrs Charlotte E. Morgan Priscillas Tante, ist. Ich fand es wundervoll, die Freundin eines Mädchens zu sein, dessen Tante Gefährliche Zeiten< und >Der Rosenknospen-Garten< geschrieben hat.«
»Wo wohnt Mrs Morgan?«
»In Toronto. Nächsten Sommer kommt sie auf einen Besuch auf die Insel. Priscilla will versuchen es so einzurichten, dass wir sie kennen lernen. Das wäre fast zu schön, um wahr zu sein - aber da hat man nach dem Zubettgehen etwas Schönes, was man sich ausmalen kann.«
Der D.V.V. war ins Leben gerufen. Gilbert Blythe war Vorsitzender, Fred zweiter Vorsitzender, Anne Shirley Schriftführerin und Diana Barry Schatzmeisterin. Die »Verschönerer«, wie sie sofort getauft wurden, trafen sich alle vierzehn Tage bei einem der Mitglieder zu Hause. Man hatte eingesehen, dass so spät im Jahr nicht mehr groß etwas auf die Beine gestellt werden konnte, aber sie wollten die Kampagne für den Sommer vorbereiten, Vorschläge sammeln und besprechen, Schreiben
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