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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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    herauszugeben. Ich legte mich angezogen auf mein ungemachtes Bett, trank den Rest aus meiner Flasche und fühlte mich zum ersten Mal seit Monaten vollkommen frei von Melancholie und Kopfschmerzen. Ich lag auf dem Bett in einem Zustand, den ich mir manchmal für das Ende meiner Tage erhoffe: betrunken und wie in der Gosse. Ich hätte mein Hemd hergegeben für einen Schnaps, nur die komplizierten
    Verhandlungen, die der Tausch erfordert hätte, hielten mich von diesem Geschäft ab.
    Ich schlief großartig, tief und mit Träumen, in denen der schwere Bühnenvorhang als ein weiches, dickes Leichentuch über mich fiel wie eine dunkle Wohltat, und doch spürte ich durch Schlaf und Traum hindurch schon die Angst vor dem Erwachen: die Schminke noch auf dem Gesicht, das rechte Knie geschwollen, ein mieses Frühstück auf Kunststofftablett und neben der Kaffeekanne eine Telegramm meines Agenten:
    »Koblenz und Mainz haben abgesagt Stop Anrufe abends Bonn. Zohnerer.« Dann
    ein Anruf vom Veranstalter, durch den ich jetzt erst erfuhr, daß er dem christlichen Bildungswerk vorstand. »Kostert«, sagte er am Telefon, auf eine subalterne Weise eisig, »wir müssen die Honorarfrage noch klären,

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    Herr Schnier.« »Bitte«, sagte ich, »dem steht nichts im Wege.«
    »So?« sagte er. Ich schwieg, und als er weitersprach, war seine billige Eisigkeit schon zu simplem Sadismus geworden. »Wir haben einhundert Mark Honorar für
    einen Clown ausgemacht, der damals zweihundert wert war« - er machte eine Pause, wohl, um mir Gelegenheit zu geben, wütend zu werden, aber ich schwieg, und er
    wurde wieder wie er von Natur aus war, ordinär, und sagte: »Ich stehe einer gemein-nützigen Vereinigung vor, und mein Gewissen verbietet es mir, hundert Mark für einen Clown zu zahlen, der mit zwanzig reichlich, man könnte sagen großzügig
    bezahlt ist.« Ich sah keinen Anlaß, mein Schweigen zu brechen. Ich steckte mir eine Zigarette an, goß mir noch von dem miesen Kaffee ein, hörte ihn schnaufen; er sagte:
    »Hören Sie noch?« Und ich sagte: »Ich höre noch«, und wartete. Schweigen ist eine gute Waffe; ich habe während meiner Schulzeit, wenn ich vor den Direktor oder vors Kollegium zitiert wurde, immer konsequent geschwiegen. Ich ließ den christlichen Herrn Kostert da hinten am anderen Ende der Leitung schwitzen; um Mitleid mit mir zu bekommen, war er zu klein, aber es reichte bei ihm zum Selbstmitleid, und
    schließlich murmelte er: »Machen Sie mir doch einen Vorschlag, Herr Schnier.«
    »Hören Sie gut zu, Herr Kostert«, sagte ich, »ich schlage Ihnen folgendes vor: Sie nehmen ein Taxi, fahren zum Bahnhof, kaufen mir eine Fahrkarte erster Klasse nach Bonn -, kaufen mir eine Flasche Schnaps, kommen ins Hotel, bezahlen meine
    Rechnung einschließlich Trinkgeld und deponieren hier in einem Umschlag soviel Geld, wie ich für ein Taxi zum Bahnhof brauche; außerdem verpflichten Sie sich bei Ihrem christlichen Gewissen, mein Gepäck kostenlos nach Bonn zu befördern.
    Einverstanden?«
    Er rechnete, räusperte sich, und sagte: »Aber ich wollte Ihnen fünfzig Mark
    geben.«
    »Gut«, sagte ich, »dann fahren Sie mit der Straßenbahn,

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    dann wird das ganze billiger für Sie als fünfzig Mark. Einverstanden?«
    Er rechnete wieder und sagte: »Könnten Sie nicht das Gepäck im Taxi
    mitnehmen?«
    »Nein«, sagte ich, »ich habe mich verletzt und kann mich nicht damit abgeben.«
    Offenbar fing sein christliches Gewissen an, sich heftig zu regen. »Herr Schnier«, sagte er milde, »es tut mir leid, daß ich . . .« »Schon gut, Herr Kostert«, sagte ich,
    »ich bin ja so glücklich, daß ich der christlichen Sache vier- bis sechsundfünfzig Mark ersparen kann.« Ich drückte auf die Gabel und legte den Hörer neben den Apparat.
    Es war der Typ, der noch einmal angerufen und sich auf eine langwierige Art
    ausgeschleimt hätte. Es war viel besser, ihn ganz allein in seinem Gewissen
    herumpopeln zu lassen. Mir war elend. Ich vergaß zu erwähnen, daß ich nicht nur mit Melancholie und Kopfschmerz, noch mit einer anderen, fast mystischen Eigenschaft begabt bin: ich kann durchs Telefon Gerüche wahrnehmen, und Kostert roch süßlich nach Veilchenpastillen. Ich mußte aufstehen und mir die Zähne putzen. Ich gurgelte mit einem Rest Schnaps nach, schminkte mich mühsam ab, legte mich wieder ins Bett und dachte an Marie, an die Christen, an die Katholiken und schob die Zukunft vor mir her. Ich dachte auch an die Gossen, in denen ich einmal

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