Ansichten Eines Clowns
Marie«, sagte ich.
Er stieß einen nicht genau definierbaren Ton aus, der zwischen Grunzen und Rülpsen lag. Ich hörte im Hintergrund des Zimmers noch Restgezische, hörte, wie Kinkel den Hörer auf den Tisch legte, wieder aufnahm, seine Stimme war kleiner
und dunkler, er hatte sich eine Zigarre in den Mund gesteckt.
»Vergangen?« fragte ich, »versuchen Sie sich doch vorzustellen, Ihre Frau ginge plötzlich zu einem anderen.«
Er schwieg auf eine Weise, die mir auszudrücken schien: täte sie es doch, sagte dann, an seiner Zigarre herumschmatzend: »Sie war nicht Ihre Frau, und Sie haben nicht sieben Kinder miteinander.«
»So«, sagte ich, »sie war nicht meine Frau?«
»Ach«, sagte er, »dieser romantische Anarchismus. Seien Sie ein Mann.«
»Verflucht«, sagte ich, »gerade , weil ich diesem Geschlecht angehöre, ist die Sache schlimm für mich - und die sieben Kinder können ja noch kommen. Marie ist erst fünfundzwanzig.«
»Unter einem Mann«, sagte er, »verstehe ich jemand, der sich abfindet.«
»Das klingt sehr christlich«, sagte ich.
»Gott, ausgerechnet Sie wollen mir wohl sagen, was christlich ist.«
»Ja«, sagte ich, »soweit ich unterrichtet bin, spenden sich nach katholischer Auffassung die Eheleute gegenseitig das Sakrament?«
»Natürlich«, sagte er.
»Und wenn sie doppelt und dreifach standesamtlich und kirchlich verheiratet sind und spenden sich das Sakrament nicht - ist die Ehe nicht existent.«
»Hm«, machte er.
»Hören Sie, Doktor«, sagte ich, »würde es Ihnen etwas ausmachen, die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. Das Ganze klingt, als sprächen wir über Aktienkurse. Ihr Schmatzen macht mir die Sache irgendwie peinlich.«
»Na, hören Sie«, sagte er, aber er nahm die Zigarre aus dem Mund, »und merken Sie sich, wie Sie über die Sache denken, ist Ihre Sache. Fräulein Derkum denkt offenbar anders darüber und handelt so, wie ihr Gewissen es ihr befiehlt. Genau richtig - kann
ich nur sagen.«
»Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Schnier«, sagte er, »wir leben nicht mehr im Mittelalter.«
»Ich wünschte, wir lebten im Mittelalter«, sagte ich, »dann wäre sie mir als Konkubine erlaubt und würde nicht dauernd in die Gewissenszange genommen. Nun, sie wird wiederkommen.«
»An Ihrer Stelle wäre ich nicht so sicher, Schnier«, sagte Kinkel. »Es ist schlimm, daß Ihnen offenbar das Organ für Metaphysik fehlt.«
»Mit Marie war alles in Ordnung, solange sie sich Sorgen um meine Seele gemacht hat, aber ihr habt ihr beigebracht, sich Sorgen um ihre eigene Seele zu machen, und jetzt ist es so, daß ich, dem das Organ für Metaphysik fehlt, mir Sorgen um Maries Seele mache. Wenn sie mit Züpfner verheiratet ist, wird sie erst richtig sündig. Soviel habe ich von eurer Metaphysik kapiert: es ist Unzucht und Ehebruch, was sie begeht, und Prälat Sommerwild spielt dabei die Rolle des Kupplers.«
Er brachte es tatsächlich fertig zu lachen, wenn auch nicht sehr dröhnend. »Das klingt alles sehr komisch, wenn man bedenkt, daß Heribert sozusagen die weltliche und Prälat Sommerwild sozusagen die geistliche Eminenz des deutschen Katholizismus ist.«
»Und Sie sind sein Gewissen«, sagte ich wütend, »und wissen genau, daß ich recht habe.«
Er schnaufte eine Weile da oben am Venusberg unter der minderwertigsten seiner drei Barockmadonnen. »Sie sind auf eine bestürzende Weise jung - und auf eine beneidenswerte.«
»Lassen Sie das, Doktor«, sagte ich, »lassen Sie sich nicht bestürzen und beneiden Sie mich nicht, wenn ich Marie nicht zurückbekomme, bringe ich euren attraktivsten Prälaten um. Ich bringe ihn um«, sagte ich, »ich habe nichts mehr zu verlieren.«
Er schwieg und steckte wieder seine Zigarre in den Mund.
arbeitet. Wenn ich Züpfner umbrächte, das war Ihnen ganz recht: der mag Sie nicht und steht Ihnen zu weit rechts, während Sommerwild für Sie eine gute Stütze in Rom ist, wo Sie - ganz zu Unrecht übrigens nach meiner bescheidenen Meinung — als linker Vogel verschrieen sind.«
»Lassen Sie doch diesen Unsinn, Schnier. Was haben Sie nur?«
»Katholiken machen mich nervös«, sagte ich, »weil sie unfair sind.«
»Und Protestanten?« fragte er lachend.
»Die machen mich krank mit ihrem Gewissensgefummel.«
»Und Atheisten?« Er lachte noch immer.
»Die langweilen mich, weil sie immer nur von Gott sprechen.«
»Und was sind Sie eigentlich?«
»Ich bin ein Clown«, sagte ich, »im Augenblick besser als mein Ruf. Und es
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