Ansichten Eines Clowns
erstenmal seit unserer Flucht wieder in Bonn. Marie war blaß
vor Aufregung, auch vor Ehrfurcht und Stolz, und ich verstand sie sehr gut. Es lag
ihr daran, sich mit der »Kirche wieder 2u versöhnen«, und Sommerwild war so nett zu ihr, und Kinkel und Sommerwild waren Leute, zu denen sie ehrfürchtig aufblickte. Sie stellte mich Sommerwild vor, und als wir uns wieder setzten, sagte Sommerwild: »Sind Sie verwandt mit den Braunkohlenschniers ?« Mich ärgerte das. Er wußte ganz genau, mit wem ich verwandt war. Fast jedes Kind in Bonn wußte, daß Marie Derkum mit einem von den Braunkohlenschniers durchgebrannt war, »kurz vor dem Abitur, und sie war doch so fromm«. Ich beantwortete Sommerwilds Frage gar nicht, er lachte und sagte: »Mit Ihrem Herrn Großvater geh ich manchmal auf die Jagd, und Ihren Herrn Vater treffe ich gelegentlich zum Skat in der Bonner Herren- Union.« Auch darüber ärgerte ich mich. Er konnte doch nicht so dumm sein, anzunehmen, daß mir dieser Unsinn mit Jagd und Herren-Union imponieren würde, und er sah mir nicht so aus, als ob er aus Verlegenheit irgend etwas sagte. Ich machte endlich den Mund auf und sagte: »Auf die Jagd ? Ich dachte immer, katholischen Geistlichen wäre Teilnahme an der Jagd verboten.« Es entstand ein peinliches Schweigen, Marie wurde rot, Kinkel rannte irritiert durchs Zimmer und suchte den Korkenzieher, seine Frau, die gerade hereingekommen war, schüttete Salzmandeln auf einen Glasteller, auf dem schon Oliven lagen. Sogar Sommerwild wurde rot, und es stand ihm gar nicht, er war schon rot genug im Gesicht. Er sagte leise, und doch ein bißchen gekränkt: »Für einen Protestanten sind Sie gut informiert.« Und ich sagte: »Ich bin kein Protestant, aber ich interessiere mich für bestimmte Dinge, weil Marie sich dafür interessiert.« Und während Kinkel uns allen Wein einschenkte, sagte Sommerwild: »Es gibt Vorschriften, Herr Schnier, aber auch Ausnahmen. Ich stamme aus einem Geschlecht, in dem der Oberförsterberuf erblich war.« Wenn er gesagt hätte Försterberuf, so hätte ich das verstanden, daß er sagte Oberförsterberuf, fand ich wieder ärgerlich, aber ich sagte nichts, machte nur ein mucksiges Gesicht.
Dann fingen sie mit ihrer Augensprache an. Frau Kinkel
sagte mit den Augen zu Sommerwild: Lassen Sie ihn, er ist ja noch so schrecklich jung. Und Sommerwild sagte mit seinen Augen zu ihr: Ja, jung und ziemlich ungezogen, und Kinkel sagte, während er mir als letztem Wein eingoß, mit den Augen zu mir: O Gott, wie jung Sie noch sind. Laut sagte er zu Marie: »Wie geht's dem Vater? Immer noch der alte?« Die arme Marie war so blaß und verstört, daß sie nur stumm nicken konnte. Sommerwild sagte: »Was wäre unsere gute alte, so fromme Stadt ohne Herrn Derkum.« Das ärgerte mich wieder, denn der alte Derkum hatte mir erzählt, daß Sommerwild versucht hatte, die Kinder der katholischen Schule, die immer noch bei ihm Bonbons und Bleistifte kaufen, vor ihm zu warnen. Ich sagte:
»Ohne Herrn Derkum wäre unsere gute alte, so fromme Stadt noch dreckiger, er ist wenigstens kein Heuchler.« Kinkel warf mir einen erstaunten Blick zu, hob sein Glas und sagte: »Danke, Herr Schnier, Sie geben mir das Stichwort für einen guten Toast: Trinken wir auf das Wohl von Martin Derkum.« Ich sagte: »Ja, auf sein Wohl mit Freuden.« Und Frau Kinkel sprach wieder mit den Augen zu ihrem Mann: Er ist nicht nur jung und ungezogen - auch unverschämt. Ich habe nie verstanden, daß Kinkel später immer diesen »ersten Abend mit Ihnen« als den nettesten bezeichnet hat. Kurz drauf kamen Fredebeul, seine Braut, Monika Silvs und ein gewisser von Severn, von dem, bevor er kam, gesagt wurde, daß er »zwar eben konvertiert sei, aber der SPD nahestehe«, was offenbar als himmelstürmende Sensation angesehen wurde. Ich sah auch Fredebeul an diesem Abend zum erstenmal, und es ging mir mit ihm wie mit fast allen: ich war ihnen trotz allem sympathisch, und sie waren mir alle trotz allem unsympathisch, außer Fredebeuls Braut und Monika Silvs; von Severn war mir weder das eine noch das andere. Er war langweilig und schien fest entschlossen, sich auf der sensationellen Tatsache, Konvertit und SPD-Mitglied zu sein, endgültig auszuruhen; er lächelte, war freundlich, und doch schienen seine etwas vorstehenden
Augen ständig zu sagen: Seht mich an, ich
bins! Ich fand ihn gar nicht übel. Fredebeul war sehr jovial zu mir, er sprach fast eine Dreiviertelstunde über Beckett und Ionesco,
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