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Ansichten Eines Clowns

Ansichten Eines Clowns

Titel: Ansichten Eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Boll , Heinrich Böll
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gibt ein katholisches Lebewesen, das ich notwendig brauche: Marie - aber ausgerechnet die habt ihr mir genommen.«
    »Unsinn, Schnier«, sagte er, »schlagen Sie sich doch diese Entführungstheorien aus dem Kopf. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert.«
    »Eben«, sagte ich, »im dreizehnten wäre ich ein netter Hofnarr gewesen, und nicht einmal die Kardinale hätten sich drum gekümmert, ob ich mit ihr verheiratet gewesen wäre oder nicht. Jetzt trommelt jeder katholische Laie auf ihrem armen Gewissen rum, treibt sie in ein unzüchtiges, ehebrecherisches Leben nur wegen eines dummen Fetzens Papier. Ihre Madonnen, Doktor, hätten Ihnen im dreizehnten Jahrhundert Exkommunikation und Kirchenbann eingebracht. Sie wissen ganz genau, daß sie in Bayern und Tirol aus den Kirchen geklaut werden - ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Kirchenraub auch heute noch als ziemlich schweres Verbrechen gilt.«
    »Hören Sie, Schnier«, sagte er, »wollen Sie etwa persönlich werden? Das
    »Sie mischen sich seit Jahren in meine persönlichsten Dinge ein, und wenn ich eine kleine Nebenbemerkung mache und Sie mit einer Wahrheit konfrontiere, die persönlich unangenehm werden könnte, werden Sie wild. Wenn ich wieder zu Geld gekommen bin, werde ich einen Privatdetektiv engagieren, der für mich herausfinden muß, woher Ihre Madonnen stammen.«
    Er lachte nicht mehr, hüstelte nur, und ich merkte, daß er noch nicht begriffen hatte, daß es mir ernst war. »Hängen Sie ein, Kinkel«, sagte ich, »legen Sie auf, sonst fange ich noch vom Existenzminimum an. Ich wünsche Ihnen und Ihrem Gewissen einen guten Abend.« Aber er begriff es noch immer nicht, und so war ich es, der zuerst auflegte.

1O

    Ich wußte sehr gut, daß Kinkel überraschend nett zu mir gewesen war. Ich glaube, er hätte mir sogar Geld gegeben, wenn ich ihn drum gebeten hätte. Sein Gerede von Metaphysik mit der Zigarre im Mund und die plötzliche Gekränktheit, als ich von seinen Madonnen anfing, das war mir doch zu ekelhaft. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Auch mit Frau Fredebeul nicht. Weg, Fredebeul selbst würde ich bei irgendeiner Gelegenheit einmal ohrfeigen. Es ist sinnlos, gegen ihn mit »geistigen Waffen« zu kämpfen. Manchmal bedaure ich, daß es keine Duelle mehr gibt. Die Sache zwischen Züpfner und mir, wegen Marie, wäre nur durch ein Duell zu klären gewesen. Es war scheußlich, daß sie mit Ordnungsprinzipien, schriftlichen Erklärungen und tagelangen Geheimbesprechungen in einem Hannoverschen Hotel geführt worden war. Marie war nach der zweiten Fehlgeburt so herunter, nervös, rannte dauernd in die Kirche und war gereizt, wenn ich an meinen freien Abenden nicht mit ihr ins Theater, ins Konzert oder zu einem Vortrag ging. Wenn ich ihr vorschlug, doch wieder wie früher Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen, Tee dabei zu trinken und auf dem Bauch im Bett zu liegen, wurde sie noch gereizter. Im Grunde fing die Sache damit an, daß sie nur noch aus Freundlichkeit, um mich zu beruhigen oder nett zu mir zu sein, Mensch-ärgere-dich-nicht mit mir spielte. Und sie ging auch nicht mehr mit in die Filme, in die ich so gern gehe: die für Sechsjährige zugelassen sind.
    Ich glaube, es gibt niemanden auf der Welt, der einen Clown versteht, nicht einmal ein Clown versteht den anderen, da ist immer Neid oder Mißgunst im Spiel. Marie war nah daran, mich zu verstehen, ganz verstand sie mich nie. Sie meinte immer, ich müßte als »schöpferischer Mensch« ein »brennendes Interesse« daran haben, soviel
    Kultur wie möglich aufzunehmen. Ein Irrtum. Ich würde natürlich sofort
    ein Taxi nehmen, wenn ich abends frei hätte und erführe, daß irgendwo Beckett gespielt wird, und ich gehe auch bin und wieder ins Kino, wenn ich genau überlege, sogar oft, und immer nur in Filme, die auch für Sechsjährige zugelassen sind. Marie konnte das nie verstehen, ein großer Teil ihrer katholischen Erziehung bestand eben doch nur aus psychologischen Informationen und einem mystisch verbrämten Rationalismus, im Rahmen des »Laßt sie Fußball spielen, damit sie nicht an Mädchen denken«. Dabei dachte ich so gern an Mädchen, später immer nur an Marie. Ich kam mir manchmal schon wie ein Unhold vor. Ich gehe gern in diese Filme für Sechsjährige, weil darin von dem Erwachsenenkitsch mit Ehebruch und Ehescheidung nichts vorkommt. In den Ehebruchs- und Ehescheidungsfilmen spielt immer irgend jemandes Glück eine so große Rolle. »Mach mich glücklich, Liebling« oder

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