Ansichten Eines Clowns
ich erinnere mich der heftigen Telefongespräche meiner Mutter mit der Klassenlehrerin und des Ausdrucks: »Ja, ja, hysterisch, das ist das Wort - und bestrafen Sie sie hart.«
Ich habe ein ähnliches Gefühl der großartigen Leere manchmal beim Mensch-
ärgere-dich-nicht-Spielen, wenn es über drei, vier Stunden lang dauert; allein die
wenn man eine Puppe schlägt. Ich brachte sogar Marie, die mehr zum Schachspielen neigt, dazu, süchtig auf dieses Spiel zu werden. Es war wie ein Narkotikum für uns. Wir spielten es manchmal fünf, sechs Stunden lang hintereinander, und Kellner und Zimmermädchen, die uns Tee oder Kaffee brachten, hatten die gleiche Mischung aus Angst und Wut im Gesicht wie meine Mutter, wenn es über Henriette kam, und manchmal sagten sie, was die Leute im Bus gesagt hatten, als ich von Marie nach Hause fuhr: »Unglaublich.« Marie erfand ein sehr kompliziertes Anschreibesystem mit Punkten: je nachdem, wo einer rausgeschmissen wurde oder einen rausschmiß, bekam er Punkte, eine interessante Tabelle entwickelte sie, und ich kaufte ihr einen Vierfarbenstift, weil sie die passiven Werte und die aktiven Werte, wie sie sie nannte, dann besser markieren konnte. Manchmal spielten wir es auch während langer Eisenbahnfahrten zum Erstaunen seriöser Fahrgäste - bis ich ganz plötzlich merkte, daß Marie nur noch mit mir spielte, weil sie mir eine Freude machen, mich beruhigen, meiner »Künstlerseele« Entspannung verschaffen wollte. Sie war nicht mehr dabei, vor ein paar Monaten fing es an, als ich mich weigerte, nach Bonn zu fahren, obwohl ich fünf Tage lang hintereinander keine Vorstellung hatte. Ich wollte nicht nach Bonn. Ich hatte Angst vor dem Kreis, hatte Angst, Leo zu begegnen, aber Marie sagte dauernd, sie müsse noch einmal »katholische Luft« atmen. Ich erinnerte sie daran, wie wir nach dem ersten Abend im Kreis von Bonn nach Köln zurückgefahren waren, müde, elend und niedergeschlagen, und wie sie dauernd im Zug zu mir gesagt hatte:
»Du bist so lieb, so lieb«, und an meiner Schulter geschlafen hatte, manchmal nur war sie aufgeschreckt, wenn draußen der Schaffner die Stationsnamen aufrief: Sechtem, Walberberg, Brühl, Kalscheuren - sie zuckte jedesmal zusammen, schrak hoch, und ich drückte ihren Kopf wieder an meine Schulter, und als wir in Köln-West ausstiegen, sagte sie: »Wir wären besser ins Kino gegangen.« Ich erinnerte sie daran, als sie von
der katholischen Luft, die sie atmen müsse, anfing
und schlug ihr vor, ins Kino zu gehen, zu tanzen, Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen, aber sie schüttelte den Kopf und fuhr dann allein nach Bonn. Ich kann mir unter katholischer Luft nichts vorstellen. Schließlich waren wir in Osnabrück, und so ganz unkatholisch konnte die Luft dort nicht sein.
11
Ich ging ins Badezimmer, kippte etwas von dem Badezeug, das Monika Silvs mir hingestellt hatte, in die Wanne und drehte den Heißwasserhahn auf. Baden ist fast so gut wie schlafen, wie schlafen fast so gut ist, wie »die Sache« tun. Marie hat es so genannt, und ich denke immer in ihren Worten daran. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß sie mit Züpfner »die Sache« tun würde, meine Phantasie hat einfach keine Kammern für solche Vorstellungen, so wie ich nie ernsthaft in Versuchung war, in Maries Wäsche zu kramen. Ich konnte mir nur vorstellen, daß sie mit Züpfner Menschärgere-dich-nicht spielen würde - und das machte mich rasend. Nichts, was ich mit ihr getan hatte, konnte sie doch mit ihm tun, ohne sich als Verräterin oder Hure vorzukommen. Sie konnte ihm noch nicht mal Butter aufs Brötchen streichen. Wenn ich mir vorstellte, daß sie seine Zigarette aus dem Aschenbecher nehmen und weiterrauchen würde, wurde ich fast wahnsinnig, und die Einsicht, daß er Nichtraucher war und wahrscheinlich Schach mit ihr spielen würde, bot keinen Trost. Irgend etwas mußte sie ja mit ihm tun, tanzen oder Kartenspielen, er ihr oder sie ihm vorlesen, und sprechen mußte sie mit ihm, übers Wetter und über Geld. Sie konnte eigentlich nur für ihn kochen, ohne dauernd an mich denken zu müssen, denn das hat sie so selten für mich getan, daß es nicht unbedingt Verrat oder Hurerei sein würde. Am liebsten hätte ich gleich Sommerwild angerufen, aber es war noch zu früh, ich hatte mir vorgenommen, ihn gegen halb drei Uhr früh aus dem Schlaf zu wecken und mich mit ihm ausgiebig über Kunst zu unterhalten. Acht Uhr am Abend, das war eine zu anständige Zeit, ihn anzurufen und ihn zu
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