Nacht der Leidenschaft
Prolog
London November 1856
„Wie soll der Mann sein, Miss Briars? Blond oder dunkel? Mittelgroß oder groß? Engländer oder Ausländer?” Die Dame war erstaunlich sachlich, so als wurde es sich um das Menü für ein Abendessen und nicht um einen Mann handeln, dessen Dienste für einen Abend erwünscht waren.
Die Fragen waren Amanda peinlich. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und ihr die Wangen brannten. Ob es einem Mann bei seinem ersten Besuch in einem Freudenhaus ähnlich erging? Zum Glück war dieses Bordell weitaus unauffälliger und dezenter eingerichtet, als sie es sich vorgestellt hatte. Es gab keine erotischen Gemälde oder Stiche mit obszönen Darstellungen, und es waren auch keine Prostituierten oder gar Kunden zu sehen. Mrs. Bradshaws Etablissement zeugte von einer gewissen Eleganz. Die Wände waren mit moosgrünem Damast bespannt und der Empfangssalon mit bequemen Hepplewhite-Möbeln ausgestattet. Ein Marmortischchen stand neben einem mit goldenen Delphinen verzierten Empiresofa.
Gemma Bradshaw griff nach einem vergoldeten Bleistift und einem winzigen Notizbuch, das am Rande des Tischchens bereit lag, und blickte ihr Gegenüber erwartungsvoll an.
„Ich habe keine besonderen Vorstellungen” sagte Amanda beschämt. Das überlasse ich Ihnen. Schicken Sie mir diesen Mann am Abend meines Geburtstags, heute in einer Woche.“
Mrs. Bradshaw fand dieses Ansinnen höchst ungewöhnlich und amüsant. „Als Geschenk für Sie persönlich? Eine entzückende Idee. Ein Lächeln überzog ihr knochiges Gesicht. Madame Bradshaw war keine Schönheit im klassischen Sinn, sie war nicht einmal hübsch zu nennen, aber ihr Teint war rosig, die Haut glatt, das Haar voll und auffallend rot, und ihre stattliche Figur strahlte eine große Sinnlichkeit aus. „Miss Briars, darf ich fragen, ob Sie noch unberührt sind?“
„Aus welchem Grund möchten Sie das wissen?“, erwiderte Amanda misstrauisch.
Mrs. Bradshaws rötliche, makellos gezupfte Brauen hoben sich belustigt. „Wenn Sie tatsächlich alles mir überlassen möchten, Miss Briars, dann muss ich über gewisse persönliche Umstände Bescheid wissen. Es geschieht nicht sehr häufig, dass eine Frau wie Sie in meinem Etablissement erscheint.“
„Also gut.“ Amanda holte tief Luft und sprach hastig, als ob eine heimliche Verzweiflung sie triebe und nicht ihr gesunder Menschenverstand, auf den sie stets so stolz gewesen war. „Ich bin eine alte Jungfer, Mrs. Bradshaw. In einer Woche werde ich dreißig. Ja, ich bin noch Ju … Jungfrau …“ Das Wort kam ihr nur mühsam über die Lippen, trotzdem fuhr sie entschlossen fort. „Aber das heißt nicht dass dieser Zustand von Dauer sein muss. Ich habe Sie aufgesucht, weil allgemein bekannt ist, dass die Wünsche Ihrer Kunden stets zur Zufriedenheit erfüllt werden. Ich kann mir vorstellen, dass es überraschend für Sie ist, eine Frau wie mich hier zu sehen …“
„Meine Liebe“, unterbrach Madame sie mit einem leisen Lachen, „die Zeiten, dass mich etwas überraschen könnte, sind längst vorbei. Ich glaube, ich verstehe Ihr Dilemma sehr gut, und werde die passende Lösung für Sie finden. Sagen Sie mir nur … haben Sie womöglich doch eine Vorstellung bezüglich des Alters und des Aussehens? Irgendeine Vorliebe oder Abneigung?“
„Ich denke an einen jungen Mann, aber nicht jünger als ich. Und nicht zu alt. Er muss nicht schön sein, sollte Jedoch ansehnlich sein. Und sauber“, fügte Amanda bestimmt hinzu. Ich bestehe auf Sauberkeit.“
Der Stift bewegte sich emsig kratzend auf dem Notizblock. „Das dürfte kein Problem darstellen“, antwortete Mrs. Bradshaw mit belustigt aufleuchtenden Augen.
„Außerdem bestehe ich auf Diskretion“, sagte Amanda steif. „Wenn jemand erfahren sollte, was ich getan habe …“
„Meine Liebe“, beschwichtigte sie Mrs. Bradshaw und setzte sich auf dem Sofa zurecht, „was glauben Sie, würde aus meinem Geschäft werden, wenn ich zuließe, dass die Privatsphäre meiner Kunden verletzt wird? Seien Sie versichert, meine Angestellten bedienen hochgestellte Mitglieder des Parlaments, ganz zu schweigen von wohlhabenden Lords – und Ladies – aus den höchsten Kreisen. Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben, Miss Briars.“
„Danke“, sagte Amanda ebenso erleichtert wie erschrocken über ihren Mut. Dennoch keimte in ihr der furchtbare Verdacht, dass sie den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte.
Kapitel 1
Amanda erkannte
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