Seelenkuss / Roman
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Mittwoch, 1. April, 22.30 Uhr
Botanischer Garten, Fairview
D as Böse lauerte mit Vorliebe in öffentlichen Toiletten.
Es lag nicht allein an der schlechten Beleuchtung und den komischen grünen Seifenklumpen. Räuber liebten Verstecke, in denen Leute verschwinden konnten, ohne dass jemand sich etwas dabei dachte. Jeder Jäger, der sein Geld wert war – und Ashe Carver war ein Profi –, wusste, dass man am besten an solchen öden, gewöhnlichen und tödlichen Orten nach Monstern suchte.
Ashe lehnte sich mit ausgebreiteten Armen an die Außenmauer des Ziegelbaus. Ihre Stiefel sanken tief in die lockere Erde des gepflegten Tulpenbeetes. Es war dunkel, feucht und kalt. Sie roch, wie sich das Chlorophyllaroma zertretener Blumentriebe mit dem antiseptischen Gestank aus den Lüftungsschlitzen in der Mauer vermengte. Man hatte die Toiletten erst vor kurzem gereinigt, wahrscheinlich nachdem der Botanische Garten abends geschlossen worden war.
Zum Glück wartete das Böse bis zum späten Abend, ehe es diesen Räumlichkeiten einen Besuch abstattete. An jedem Wochentag kamen Tausende von Touristen durch die rosenumrankten Tore der Anlage, schlürften die überteuerten Getränke und liefen danach direkt zu den Toiletten. Heute Abend schützte sie das Timing allein vor übleren Problemen als einem leeren Papiertuchbehälter.
Gegen Viertel nach neun hatte etwas den Getränkeverkäufer gefressen. Anhand des Namens, der auf die Brusttasche seines rot-weiß gestreiften Hemds gestickt war, hatte man ihn identifiziert. Das Wachpersonal hatte die Polizei gerufen, diese wiederum den Fachmann für Übernatürliches – sprich: Ashes Vampirschwager –, und der hatte mit Ashe telefoniert. Wie er behauptete, waren Blutbäder eher ihr Ding.
Als Erstes hatte sie sich die Leiche angesehen. Um es in einem Wort zu sagen:
Uärgs.
Solche Bissmale hatte Ashe noch nie gesehen, wettete allerdings, dass sie von irgendeinem Werwesen stammten.
Sie verfluchte die blühenden Sträucher, die ihr die Sicht auf den Eingang zur Damentoilette versperrten. Die Blüten waren bleich in dem matten Licht und verschwammen mit den Schatten wie Aquarellsterne. Schön, aber sicherheitstechnisch ging das gar nicht. Sie schlich sehr langsam auf den Eingang zu, Augen und Ohren auf die leiseste Störung ausgerichtet. Das Problem war, dass es hier von Insekten, Vögeln, Fledermäusen, Nagern und Dutzenden anderer Wesen nur so wimmelte, die Geräusche verursachten, selbst oder sogar besonders bei Nacht. Die meisten Räuber nutzten dieses Raschelchaos als Tarnung.
Schlimmer noch war der menschliche Lärm. Selbst aus der Entfernung übertrug sich der Krach von Stimmen und Autos. Ashe hatte ihre Position durchgesagt und das Funkgerät ausgeschaltet, das der Mann am Tor ihr gegeben hatte. Wenn etwas um die Ecke wartete, würde ein plötzliches Knistern und Knacken in dem Ding sie sofort verraten. Außerdem war sie als Hexe geboren worden. Ein fauler Zauber hatte ihr einen Großteil ihrer Kräfte genommen, aber sie besaß immer noch ihren sechsten Sinn, der ihr ein ums andere Mal das Leben gerettet hatte. Elektronischer Firlefanz störte ihn eher.
Ashe erstarrte und strengte sich an, auch den leisesten Hinweis auf das Mistviech wahrzunehmen. Eine leichte Brise kühlte den Schweiß an ihrem Haaransatz. Ihr Herz hämmerte wie wild, wohingegen ihr Verstand klinisch ruhig war. Wenn man es mit irgendetwas aufnahm, das größer als ein Gartenkobold war, musste man sich auf seine Selbstdisziplin verlassen können.
Zwei Schritte weiter, und sie befand sich hinter dem Rhododendron, der direkt an der Tür stand. Die Blütenblätter strichen kühl und sachte über ihre Haut, so dass sie erschauderte. Sie verlagerte den Griff auf ihrer Colt-Automatik: eine eigens für sie angefertigte Waffe, geladen mit der besten Silbermunition, die Ashe sich leisten konnte. Dann trat sie die Toilettentür mit einem seitlichen Fußkick auf.
Die Tür knallte gegen die Wand. Der Lärm war beabsichtigt, denn er sollte ihre Beute dazu verlocken, sich zu zeigen. Ashes Blick wanderte als Erstes an die Decke – man konnte ja nie wissen –, dann über die lange Reihe von Waschbecken und Kabinen. Alles sah blitzblank und vor allem leer aus. Sie schlich vorsichtig hinein, die Waffe im Anschlag, und ließ die Tür hinter sich zufallen.
Das Echo der ins Schloss klickenden Tür ging im Surren der schwachen Neonröhren und im Plätschern tropfender Wasserhähne unter. Allein das Geräusch
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