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Ansichten Eines Clowns

Ansichten Eines Clowns

Titel: Ansichten Eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Boll , Heinrich Böll
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Gesicht, wie ich es von tausend Trainingsstunden aus dem Spiegel kannte, vollkommen unbewegt, schneeweiß geschminkt, nicht einmal die Wimpern bewegten sich, auch nicht die Brauen, nur die Augen, langsam bewegte ich sie hin und her wie ein banges Kaninchen, um jene Wirkung zu erzielen, die Kritiker wie Genneholm »diese erstaunliche Fähigkeit, animalische Melancholie dar- zustellen«, genannt hatten. Ich war tot und auf tausend Stunden mit meinem Gesicht eingesperrt - keine Möglichkeit, mich in Maries Augen zu retten.
    »Sprich doch«, sagte ich.

    »Er riet mir, dich zu einem der besten Lehrer zu schicken. Für ein Jahr, für zwei, für ein halbes. Genneholm meint, du müßtest dich konzentrieren, studieren, soviel Bewußtheit erreichen, daß du wieder naiv werden kannst. Und Training, Training, Training - und, hörst du noch?« Seine Stimme klang Gottseidank milder.
    »Ja«, sagte ich.

    »Und ich bin bereit, dir das zu finanzieren.«

    Ich hatte das Gefühl, als wäre mein Knie so dick und rund
    wie ein Gasometer. Ohne die Augen zu öffnen, tastete ich mich um den Sessel herum, setzte mich, tastete nach den Zigaretten auf dem Tisch wie ein Blinder. Mein Vater stieß einen Schreckensruf aus. Ich kann einen Blinden so gut spielen, daß man glaubt, ich wäre blind. Ich kam mir auch blind vor, vielleicht würde ich blind bleiben. Ich spielte nicht den Blinden, sondern den soeben Erblindeten, und als ich die Zi- garette endlich im Mund hatte, spürte ich die Flamme von Vaters Feuerzeug, spürte auch, wie heftig sie zitterte.
    »Junge«, sagte er ängstlich, »bist du krank?«

    »Ja«, sagte ich leise, zog an der Zigarette, inhalierte tief, »ich bin todkrank, aber nicht blind. Magenschmerzen, Kopfschmerzen, Knieschmerzen, eine üppig wuchernde Melancholie - aber das schlimmste ist, ich weiß genau, daß Genneholm recht hat, zu ungefähr fünfundneunzig Prozent, und ich weiß sogar, was er weiter gesagt hat. Hat er von Kleist gesprochen?«
    »Ja«, sagte mein Vater.

    »Hat er gesagt, ich müßte meine Seele erst verlieren?— ganz leer sein, dann könnte ich mir wieder eine leisten. Hat er das gesagt?«
    »Ja«, sagte mein Vater, »woher weißt du das ?«

    »Mein Gott«, sagte ich, »ich kenne doch seine Theorien und weiß, woher er sie hat. Aber ich will meine Seele nicht verlieren, ich will sie wiederhaben.«
    »Du hast sie verloren?«

»Ja.«

    »Wo ist sie?«

    »In Rom«, sagte ich, schlug die Augen auf und lachte.

    Mein Vater war wirklich vor Angst ganz blaß und alt geworden. Sein Lachen klang erleichtert und doch ärgerlich.
    »Du Bengel«, sagte er, »war das Ganze gespielt?«
    »Du Bengel«, sagte mein Vater, »du hast mich dran gekriegt.«

    »Nein«, sagte ich, »nein, ich habe dich nicht mehr dran gekriegt, als ein wirklich Blinder dich drankriegt. Glaub mir, nicht jedes Tappen und nach Halt Suchen ist unbedingt notwendig. Mancher Blinde spielt, obwohl er wirklich blind ist, den Blinden. Ich könnte jetzt vor deinen Augen von hier bis zur Tür humpeln, daß du vor Schmerz und Mitleid aufschreien und sofort einen Arzt anrufen würdest, den besten Chirurgen der Welt, Fretzer. Soll ich?« Ich war schon aufgestanden.
    »Bitte, laß«, sagte er gequält, und ich setzte mich wieder.

    »Bitte, setz du dich auch«, sagte ich, »bitte, es macht mich nervös, wenn du so herumstehst.«
    Er setzte sich, goß sich Sprudel ein und sah mich verwirrt an. »Man wird aus dir nicht klug«, sagte er, »gib mir doch eine klare Antwort. Ich zahl dir das Studium, egal, wo du hingehen willst. London, Paris, Brüssel. Das Beste ist gerade gut genug.«
    »Nein«, sagte ich müde, »es wäre genau das Falsche. Mir nützt kein Studium mehr, nur noch Arbeit. Studiert habe ich, als ich dreizehn, vierzehn war, bis einundzwanzig. Ihr habts nur nicht gemerkt. Und wenn Genneholm meint, ich könnte jetzt noch studieren, ist er dümmer, als ich dachte.«
    »Er ist ein Fachmann«, sagte mein Vater, »der beste, den ich kenne.« - »Sogar der beste, den es hier gibt«, sagte ich, »aber nur ein Fachmann, er versteht was von Theater, Tragödie, Commedia dell’arte, Komödie, Pantomime. Aber schau dir einmal an, wie seine eigenen komödiantischen Versuche ausfallen, wenn er plötzlich mit violetten Hemden und schwarzen Seidenschleifen auftaucht. Da würde jeder Dilettant sich schämen. Daß Kritiker kritisch sind, ist nicht das Schlimme an ihnen, sondern daß sie sich selbst gegenüber so unkritisch und humorlos sind. Peinlich.

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