Anthrax
stellten, die Brads Ermordung vorausgegangen waren.
»Gott sei Dank!« seufzte Mrs. Cassidy erleichtert. »Er war ein schwieriger und bestimmt kein guter Junge; aber lange zu leiden, hat er auch nicht verdient. Dieser Gedanke hat mir großen Kummer bereitet.«
»Schön, daß ich Ihnen helfen konnte«, beschloß Laurie das Gespräch und stieß sich vom Schreibtisch ab. Sie wollte so schnell wie möglich zu einem Ende kommen, um weitere Fragen zu vermeiden. »Falls ich noch etwas für Sie tun kann, rufen Sie mich bitte an.«
Mr. und Mrs. Cassidy standen auf. Sie waren Laurie sehr dankbar. Mr. Cassidy schüttelte ihr kräftig die Hand. Laurie gab ihm eine ihrer Visitenkarten und führte die beiden aus dem kleinen Raum und durch den ID-Raum hinaus in den Wartebereich. Die Cassidys verließen das Institut. Nach einer letzten Verabschiedung ließ Laurie die Tür ins Schloß fallen und seufzte erleichtert auf. »Hast du gerade einen Toten identifizieren lassen, von dem ich nichts weiß?« fragte George Fontworth. Er stand über die Liste der neuen Todesopfer gebeugt und erstellte den Tagesplan für die Durchführung der Autopsien. »Nein«, korrigierte Laurie und starrte ins Leere. »Das waren die Eltern von meinem gestrigen Fall.« Seitdem die Cassidys gegangen waren, kam sie nicht mehr von dem Horrorgedanken los, daß deren Sohn vermuüich andere Skinheads mit Sturmgewehren ausgestattet hatte. Erst am Tag zuvor hatte Special Agent Gordon Tyrrell auf die gewaltige Gefahr hingewiesen, die man heraufbeschwor, wenn man zuließ, daß derart tödliche Waffen in die Hände von gewalttätigen und rassistischen Fanatikern gelangten – und zwar erst recht in Anbetracht dessen, daß die ultrarechten Neonazi-Milizen eifrig dabei waren, Skinheads für ihre sogenannten Terrortruppen zu rekrutieren.
Wo soll das nur hinführen? fragte Laurie sich. Sie war schon immer für eine strengere Auslegung der Waffengesetze gewesen, doch im Moment verspürte sie sogar eine grenzenlose Wut auf alle Sorten von Kanonen und die viel zu laschen Vorschriften.
Kapitel 10
Dienstag, 19. Oktober, 11.15 Uhr
Yuri ließ den Motor seines Taxis laufen, sprang aus dem Wagen und öffnete das Garagentor. Obwohl er total erschöpft war, huschte ihm beim Anblick des Pestizid-Verstäubers ein Lächeln über das Gesicht. Daß das SpezialFahrzeug in seiner Garage stand und auf den großen Tag wartete, bereitete ihm ein Hochgefühl und gab all seinen Anstrengungen und quälenden Ängsten einen Sinn. Er fuhr das Taxi in die Garage und schloß das Tor. Niemand durfte das Fahrzeug mit dem Verstäuber-Equipment zu Gesicht bekommen.
An der Hintertür hielt er einen Augenblick inne und nahm seine direkte Nachbarschaft in Augenschein. Er wollte sich vergewissern, daß ihm niemand Beachtung schenkte; schließlich kam er normalerweise nicht mitten am Vormittag nach Hause. Das Sirenengeheul des Rettungswagens in den frühen Morgenstunden hatte seine Nachbarn vermutlich ohnehin schon genügend aufgeschreckt. Zum Glück konnte er weit und breit keine Menschenseele entdecken. Es war ein friedlicher Altweibersommertag mit Temperaturen um die zwanzig Grad. Im Augenblick bellte nicht einmal ein Hund. Im Haus angelangt, steuerte er schnurstracks den Kühlschrank an und schenkte sich ein Glas Wodka ein. Er lehnte sich gegen den Küchentresen und nahm einen großen Schluck, der ihn sofort beruhigte. Daß Connies Leiche in die gerichtsmedizinische Abteilung des Kings County Hospitals gebracht worden war, beunruhigte ihn immer noch. Man hatte ihm mitgeteilt, daß er seine Frau im Coney Island Hospital bereits ausreichend identifiziert habe und den Leichentransport deshalb nicht begleiten müsse; doch er war trotzdem mitgefahren. Er hatte das Krankenhaus sowieso aufsuchen wollen – in der Hoffnung, die Ärzte von der Durchführung der Autopsie abbringen zu können. Leider hatte er gar keinen Arzt zu sehen bekommen, sondern lediglich mit einer sogenannten gerichtsmedizinischen Ermittlern sprechen können. Immerhin hatte er sichergestellt, daß die Ermittlerin von Connies Asthmavorgeschichte und den Allergien erfuhr. Laut ihrer Mitteilung würde die Autopsie auf keinen Fall vor acht Uhr vorgenommen, da die Doktoren von der Gerichtsmedizin dann erst einträfen. Um fünf Uhr morgens war Yuri wieder zu Hause gewesen, und trotz seiner Erschöpfung hatte er an Schlaf nicht denken können. Aufgekratzt wie er war, hatte er sich ins Taxi gesetzt und die Rushhour ausgenutzt. Die Entscheidung
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