Anthrax
nachempfinden. Das Problem war, daß Lou und Agent Tyrrell ihr Informationen über das Opfer anvertraut hatten, die sie nicht offenlegen durfte – zum Beispiel die Tatsache, daß Brad Cassidy im Zuge einer Kronzeugenregelung mit den Behörden zusammengearbeitet hatte. »Wir haben von unserer Tochter Helen erfahren, daß Brad Furchtbares zugestoßen ist«, brachte Mr. Cassidy hervor. »Er lebte erst seit kurzem in der Stadt bei seiner Schwester. Aber sie konnte uns nicht genau sagen, woran er nun eigentlich gestorben ist. Deshalb sind wir selber hergekommen. Wir leben weiter oben im Bundesstaat New York.«
»Was möchten Sie wissen?« fragte Laurie und hoffte, daß sie nicht ins Detail gehen mußte.
Die Cassidys sahen sich an und verständigten sich, wer zuerst sprechen sollte. Schließlich räusperte sich Mr. Cassidy. »Wir würden unter anderem gerne wissen, ob unser Sohn erschossen wurde.«
»Das wurde er«, bestätigte Laurie. »Ohne jeden Zweifel.«
»Hab’ ich’s dir nicht gesagt?« wandte sich Mrs. Cassidy an ihren Mann, als ob die Nachricht ihre Position in einem Streitfall untermauerte. »Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen: Matthäus sechsundzwanzig.«
»Wissen Sie, mit was für einer Waffe er erschossen wurde?« fragte Mr. Cassidy.
»Nein«, erwiderte Laurie. »Vielleicht erfahren wir das auch nie. Wir untersuchen natürlich die Kugel. Falls die Polizei davon ausgeht, daß der Mörder ein bestimmtes Gewehr benutzt hat, kann die Kugel uns eventuell Aufschluß geben.«
»Ist nur einmal auf ihn geschossen worden?« wollte Mr. Cassidy dann wissen.
»Das vermuten wir«, erwiderte Laurie zurückhaltend. Sie wollte nicht zuviel sagen, solange der Mord an Brad Cassidy nicht geklärt war.
»Dann ist er vielleicht gar nicht mit einem seiner eigenen Gewehre erschossen worden«, sagte Mr. Cassidy zu seiner Frau. »Sonst hätten sie ihn bestimmt mit Schüssen durchlöchert.«
»Hatte Ihr Sohn viele Waffen?« fragte Laurie. »Viel zu viele«, jammerte Mrs. Cassidy. »Damit hat er sich seinen zweiten Ärger eingehandelt. Wir waren immer darauf gefaßt, daß er eines Tages im Gefängnis landen würde. Ich verstehe beim besten Willen nicht, was Männer an Waffen finden.«
»Waffen sind ja nicht generell schlecht«, warf Mr. Cassidy ein.
»Die meisten sehr wohl, wenn du mich fragst«, giftete Mrs. Cassidy ihn an. »Vor allem diese vollautomatischen.« An Laurie gewandt fügte sie hinzu: »Sie waren Brads Steckenpferd. Er hat Sturmgewehre verkauft.«
»Aber wie ist er denn an diese Gegenstände herangekommen?« fragte Laurie. Bei dem Gedanken, daß ein junger Skinhead im oberen Bundesstaat New York Sturmgewehre verkauft hatte, sträubten sich ihr die Nackenhaare. »Das wissen wir nicht so genau«, gab Mr. Cassidy Auskunft. »Ursprünglich kommen sie aus Bulgarien. Zumindest wurden sie dort hergestellt. Durch Zufall habe ich eine Ladung dieser Gewehre in unserer Scheune entdeckt, wo Brad sie versteckt hatte.«
»Das klingt ja furchtbar«, entgegnete Laurie. Die Antwort war vielleicht platt und banal, aber sie meinte es ehrlich. Sie hatte sich innerhalb der forensischen Medizin auf Schußverletzungen spezialisiert und schon jede Menge Opfer von Schießereien gesehen, mehr als sonst irgendwer im Gerichtsmedizinischen Institut. Auf einmal fragte sie sich, ob sie womöglich schon Opfer von Brad Cassidys Kunden auf dem Autopsietisch gehabt hatte.
»Es gibt noch etwas, das wir Sie fragen möchten«, brachte Mrs. Cassidy stockend hervor. »Wir wüßten gern, ob unser Junge leiden mußte.«
Laurie sah einen Augenblick weg und rang mit sich. Sie haßte es, wenn sie sich zischen der Wahrheit und einer Notlüge aus Mitgefühl entscheiden mußte. Brad Cassidy war unbestreitbar mit unmenschlicher Brutalität gefoltert worden – aber was würde es bringen, die trauernden Eltern mit diesem Horror zu konfrontieren? Andererseits widerstrebte es ihr zu lügen.
»Sie können es uns offen sagen«, wappnete Mr. Cassidy sich, als ob er spürte, daß Laurie nicht wußte, wie sie reagieren sollte.
»Ihr Sohn hat einen Kopfschuß erlitten, und ich vermute, daß er auf der Stelle tot war«, antwortete Laurie. Ihr war plötzlich ein Hintertürchen eingefallen, das sie vor der Lüge bewahrte. Ihre Antwort war zwar nicht vollkommen korrekt, da sie nicht auf Mrs. Cassidys Frage einging, aber sie sagte auch nicht die Unwahrheit. Nun lag es bei den Cassidys, ob sie die kritische Frage nach der Reihenfolge der Taten
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