Anthrax
sich nicht getäuscht hatte. Doch es war in der Tat halb fünf Uhr morgens! »Paß auf«, fuhr Laurie fort. »Ich muß mich kurz fassen. Ich möchte heute abend mir dir essen gehen.«
»Soll das ein Witz sein?« fragte Jack.
»Das ist kein Witz«, entgegnete Laurie. »Es ist wichtig. Ich muß mit dir reden, und zwar am liebsten beim Abendessen. Ich lade dich ein. Sag, daß du kommst!«
»Wahrscheinlich«, murmelte Jack. Er wollte sich ungern festlegen.
»Ich fasse deine Antwort als Ja, auf«, stellte Laurie klar. »Wo wir hingehen, sage ich dir später. Ich sehe dich ja nachher im Büro. Okay?«
»Von mir aus«, entgegnete Jack. Er war doch noch nicht so wach, wie er gedacht hatte. Sein Hirn arbeitete im Schneckentempo.
»Super«, sagte Laurie. »Dann bis nachher.« Erstaunt registrierte Jack, daß Laurie das Gespräch beendet hatte. Er legte auf und starrte in die Dunkelheit. Er lernte Laurie Montgomery vor mehr als vier Jahren kennen, als sie Kollegen wurden. Sie waren beide Gerichtsmediziner und beim Gerichtsmedizinischen Institut der Stadt New York angestellt. Darüber hinaus wurde sie aber auch seine Freundin – tatsächlich war sie sogar mehr als eine Freundin für ihn -, trotzdem hatte sie ihn in all den Jahren noch nie so früh angerufen. Unvorstellbar! Er wußte, daß sie kein Morgenmensch war. Laurie liebte es, bis spät in die Nacht Romane zu lesen, was zur Folge hatte, daß das morgendliche Aufstehen eine Tortur für sie bedeutete.
Mit der festen Absicht, noch eineinhalb Stunden zu schlafen, ließ Jack sich zurück in die Kissen sinken. Im Gegensatz zu Laurie war er sehr wohl ein Morgenmensch, aber halb fünf erschien sogar ihm ein bißchen zu früh. Leider mußte er sich ziemlich schnell eingestehen, daß an Schlaf nicht mehr zu denken war. Der Anruf und der Alptraum ließen ihn einfach nicht mehr zur Ruhe kommen. Nachdem er sich eine halbe Stunde hin-und hergeworfen hatte, gab er schließlich auf, schlug die Decke zurück und schlurfte in seinen Schaffellschlappen ins Bad. Er knipste das Licht an und musterte sich im Spiegel, wobei er sich mit der linken Hand über sein unrasiertes Kinn strich. Geistesabwesend registrierte er den lädierten linken Schneidezahn und die Narbe hoch oben auf seiner Stirn – beides Andenken an seine auf eigene Faust angestellten Ermittlungen, die er im Zusammenhang mit einer Reihe von plötzlich aufgetretenen Infektionskrankheiten angestellt hatte. Unerwarteterweise hatte die Geschichte ihren Niederschlag darin gefunden, daß er, was Infektionskrankheiten betraf, faktisch die Autorität des Gerichtsmedizinischen Instituts geworden war.
Sein Spiegelbild veranlaßte ihn zu grinsen. Vor ein paar Tagen war ihm in den Sinn gekommen, daß er sich wohl nie und nimmer wiedererkannt hätte, wenn er vor acht Jahren imstande gewesen wäre, sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Augenschein zu nehmen. Damals war er ein ziemlich beleibter, konservativ gekleideter Augenarzt im Mittleren Westen gewesen. Heute war er schlank und rank, mit allen Wassern gewaschen, und arbeitete als Gerichtsmediziner in der City von New York; er hatte kurzgeschnittenes, mit grauen Strähnen durchsetztes Haar, einen angeschlagenen Zahn und ein vernarbtes Gesicht. Seine bevorzugte Kleidung bestand inzwischen aus Bomberjacken, verwaschenen Jeans und Kambrikhemden.
Er schob die Gedanken an seine Familie beiseite und grübelte über Lauries überraschendes Verhalten. Es paßte ganz und gar nicht zu ihr. Sie war immer rücksichtsvoll und achtete auf korrektes Auftreten. Niemals würde sie ohne triftigen Grund zu so einer Zeit anrufen. Er fragte sich, was für ein Grund das wohl sein mochte.
Während er sich weiter den Kopf zerbrach, warum Laune ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf schreckte, bloß um ihn zum Abendessen einzuladen, rasierte er sich und duschte. Sie gingen des öfteren abends zusammen essen, aber normalerweise entschieden sie sich spontan. Warum, in aller Welt, mußte sie dieses Date zu nachtschlafender Zeit vereinbaren?
Nach dem Abtrocknen beschloß er, Laurie zurückzurufen. Es war doch absurd, daß er sich das Hirn darüber zermarterte, was wohl in ihrem Kopf vorging. Wenn sie ihn schon aus dem Schlaf riß, konnte sie ihm wenigstens den Grund dafür nennen. Doch als er ihre Nummer wählte, sprang nur ihr Anrufbeantworter an. Da er sie nur lediglich kurz unter der Dusche vermutete, hinterließ er ihr die Nachricht, ihn bitte sofort zurückzurufen.
Als er sein Frühstück beendet
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