Die Bücher von Umber: Drachenspiele
1
D er Junge hielt die Reling fest umklammert. Er beobachtete, wie die riesige Schwanzflosse des Leviathans aus den Fluten aufstieg, bis sie fast die Wasseroberfläche durchbrach, und dann wieder nach unten schwang, um die Barke in einem kraftvollen, traumähnlichen Rhythmus durch das schwarze, wogende Meer zu treiben. Die vom Unwetter beschädigte, aber immer noch prächtige Hafenstadt Kurahaven lag weit hinter ihnen und die Sonnenglut war bereits vor Stunden am Horizont verloschen.
Happenstance betrachtete die dunklen Wellen mit Unbehagen. Er hatte gehofft, dass seine Angst vor dem Wasser nachlassen würde, je mehr Stunden er damit verbrachte, seine Oberfläche zu durchpflügen. Aber es ist genauso schlimm wie immer, dachte Hap. Seine Mundwinkel zuckten leicht und er zog die Schultern hoch.
Es gab eine offene Luke an Deck, durch die man über eine Treppe in die geräumige Hauptkajüte gelangte. Ein fröhliches Geräusch drang über die Stufen in die Nacht hinaus. Hap erkannte das Lachen seines Vormunds. Lord Umber war gut gelaunt wie immer, wenn er ein üppiges Mahl und einen Becher seines geliebten Kaffees bekommen hatte und die Aussicht auf eine aufregende Entdeckung bestand.
Hap ging zur Reling am rechteckigen Bug, um nachzuschauen, was vor ihnen lag. Seine auÃergewöhnlich guten Augen durchdrangen die Dunkelheit und entdeckten Nima, die Kapitänin der Walfischbarke. Sie saà im Schneidersitz auf dem Rücken von Boroon, dem Leviathan. Nima drehte den Kopf und schaute zur Barke, die auf Boroons riesigem Rücken festgemacht war; vielleicht spürte sie, dass jemand sie beobachtete.
»Hallo, Nima«, rief Hap. Er war sich nicht sicher, ob Nima ihn in der Dunkelheit sehen konnte, zumal Wolkenfetzen den Moon verhüllten, doch sie winkte. Dann stand sie auf, überquerte die Knochenplatten auf dem Rücken des Leviathans und erklomm die Treppe zu Hap.
Nima trug ein schwarzes Seehundfell. Hap erhaschte einen Blick auf die durchsichtige Haut zwischen ihren Fingerknöcheln, als sie sich mit den Händen durch ihre langen Haare fuhr. Doch er wandte den Blick sofort wieder ab; er wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, wenn man wegen ungewöhnlicher körperlicher Merkmale angestarrt wurde.
»Warum bist du nicht unten bei den anderen, Happenstance?«, fragte sie.
Hap zuckte mit den Schultern. »Ich hatte Lust raufzukommen.« Was nicht ganz stimmte. Eigentlich hatte er Lust gehabt, diese ganze Abenteuerfahrt abzublasen. Er wünschte sich, Umber könnte sich damit begnügen, einfach zu Hause auf Aerie zu bleiben. Hap fühlte sich dort wohl, und in Aeries randvollen Archiven warteten Wunder und Geheimnisse in Hülle und Fülle. Das waren die Abenteuer, die er bevorzugte: Abenteuer aus Tinte, die einen nicht zwischen ihren Kiefern oder unter ihren FüÃen zermalmen konnten. Aber Umber mochte dummerweise die echten Abenteuer lieber. Und was die Sache noch schlimmer machte, war, dass Hap bei jeder Reise in ein neues Land wieder neuen Fremden ausgesetzt war, die auf seine merkwürdigen grünen Augen zeigten und ihn anglotzten.
»Ich bin froh, dich mal allein zu erwischen«, sagte Nima. »Ich wollte dir nämlich etwas geben.« Sie trug eine silberne Kette um den Hals, die sie nun über ihren Kopf zog. Daran hing ein groÃes Medaillon, das aussah wie die beiden Hälften einer Muschel. Nima hielt es hoch, und Hap öffnete die Hand, um es anzunehmen.
»Das ist sehr hübsch«, sagte er. »Aber â¦Â«
»Warum ich es dir schenke? Weil ich gehört habe, dass du dein Leben riskiert hast, um Umber zu retten. Und Umber ist mein Freund. Du hast mir also sehr viel Trauer erspart.«
Hap biss die Zähne zusammen, als er an jene entsetzliche Nacht zurückdachte. Damals war er in eine Turmruine hinaufgestiegen, um sich der schrecklichen Kreatur entgegenzustellen, die Augen stahl und Umber als Geisel genommen hatte. »Aber ich habe Umber nicht allein gerettet«, sagte er.
»Das weià ich. Doch du hast das eigentliche Geschenk ja noch gar nicht gesehen, Hap. Ãffne es.«
Als Hap das Medaillon dichter vor die Augen hielt, erkannte er einen winzigen Verschluss in der Naht zwischen beiden Muschelhälften. Er öffnete ihn mit dem Fingernagel und die Muschel klappte auf. Darin lag eine riesige Perle. Sie war so rund und schimmernd wie der Mond, der in genau diesem Augenblick aus seinem Versteck
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