Antonias Wille
Arm genommen, hörte kein »Lass mich dich anschauen, Kind!« und auch nicht »Dass ich in meinem Alter das noch erleben darf â¦Â«. Antonia war um einiges kleiner als Julie und mochte wohl kaum mehr als fünfzig Kilo wiegen, doch ihr Händedruck war erstaunlich fest. Ihre Augen sahen ein bisschen müde aus, blickten aber freundlich und interessiert drein. Souverän, als hätte sie täglich Gäste, hängte Antonia Julies Blazer an die Garderobe, erkundigte sich nach ihrer Fahrt, lobte das sonnige Wetter und geleitete ihren Besuch dann ins Wohnzimmer, wo der Kaffeetisch gedeckt war.
Während sich Julie auf einen der Korbstühle setzte, registrierte sie mehrere Dinge gleichzeitig: Dem Haus fehlte der typische Alte-Leute-Geruch, stattdessen duftete es nach frisch gewaschenem Leinenzeug. AuÃerdem war die Einrichtung völlig anders, als sie es bei einer alten Dame erwartet hätte: keine Blümchentapeten, kein röhrender Hirsch, keine eingerahmten Familienfotos, keine Häkeldeckchen. Stattdessen stand in der Mitte des Raumes ein schlichtes, hellbeigefarbenes Sofa, gesäumt von zwei Stehlampen mit Schirmen aus Reispapier. In einer Ecke plätscherte ein Zimmerspringbrunnen. Trotz der spärlichen Möblierung wirkte das Haus weder kühl noch ungemütlich, sondern ausgesprochen harmonisch.
Antonia, die den Blicken ihrer Besucherin gefolgt war, sagte: »Ich habe das Haus nach den Prinzipien des Feng-Shui eingerichtet â oder es zumindest versucht!« Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Meine Verwandtschaft hier im Dorf ist allerdings der Meinung, ich würde sie blamieren, weil ich nicht einmal Vorhänge an den Fenstern habe. Seiâs drum!« Sie schnittzwei Stücke Marmorkuchen ab, wovon sie ein Stück auf Julies Teller hievte.
»Bei dieser Sicht würde ich auch keine Vorhänge haben wollen!« Julie zeigte auf den Obstgarten, in dem alte Bäume voller rotwangiger Ãpfel hingen. »Man muss nur eine Hand ausstrecken, um sich einen Apfel zu pflücken! Und wenn ich mir den Duft im Frühjahr vorstelle, wenn die Bäume blühen!« Feng-Shui â wenn sie das ihren Eltern erzählte â¦
Noch während sie Kaffee einschenkte, erwähnte Antonia den Zeitungsartikel, durch den sie auf Julie aufmerksam geworden war.
»Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal gewusst, dass ich überhaupt noch Verwandte väterlicherseits habe! Und dann sogar eine erfolgreiche, schöne junge Frau wie Sie! Mein Vater ⦠hat meine Mutter und mich verlassen, als ich noch ein kleines Kind war. Seitdem haben wir von den Fahrners nichts mehr gehört. Und auch davor gab es, glaube ich, keinen Kontakt zu Vaters Familie, obwohl ich das nicht beschwören möchte.«
»Aber mit Ihren Verwandten hier in Rombach sind Sie in Kontakt geblieben, oder?« Julie nahm einen Schluck Kaffee. Die alte Dame war wirklich völlig anders, als Julie sie sich vorgestellt hatte.
Antonia zögerte kurz. »Wenn ich ehrlich bin â nein. Als ich damals mit fünfundzwanzig Jahren nach Japan ging, prasselte so viel Neues auf mich ein, dass ich für Briefe in die Heimat kaum Zeit fand. Und nachdem meine Mutter gestorben war â wem hätte ich da noch schreiben sollen? Meine Mutter hatte keinen besonders guten Kontakt zu ihren Geschwistern, und das hat sich auf mich übertragen. Hin und wieder hat mir eine Kusine mal ein paar Zeilen geschrieben, mehr nicht. Nicht, dass ich deshalb böse gewesen wäre! Geburtstagsfeiern, Taufen, silberne Hochzeiten â diese ganzen Verpflichtungen sind Gott sei Dank an mir vorbeigegangen.« Antonia betrachtete eingehend ihre Kaffeetasse.
Und woher rührt dann der Schmerz in deiner Stimme?,fragte sich Julie insgeheim. Um die alte Dame aus ihren Gedanken zu reiÃen, richtete sie die GrüÃe ihrer Eltern aus sowie deren ausdrücklichen Wunsch, Antonia baldmöglichst persönlich kennen zu lernen.
Statt zu antworten schaute Antonia wie schon einige Male zuvor auf ihre Armbanduhr. Sie schien Mühe zu haben, die Position der filigranen Zeiger zwischen den Ziffern zu erkennen. Julie warf einen Blick auf ihre eigene Uhr. Es war kurz vor drei. Erwartete Antonia noch jemanden?
Die alte Dame räusperte sich. »Wenn Sie Lust haben, würde ich jetzt gern einen kleinen Ausflug mit Ihnen machen. Ich möchte Ihnen den Ort zeigen, wo ich geboren
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