Oelspur
Prolog
E
s ist sehr schnell dämmerig geworden. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich eine flache Weidelandschaft und einen schnurgeraden Kanal, der an beiden Uferseiten von Bäumen gesäumt wird. Im verblassenden Tageslicht zeichnen sich die Umrisse der Bäume scharf gegen den Himmel ab. Ich bin noch nie in Flandern gewesen. Aber das hat nichts zu sagen. Ich habe ja auch noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt. Eine doppelläufige Schrotflinte, sehr groß, sehr schwer, die sich fabelhaft anfühlt. Schließlich gibt es für alles ein erstes Mal.
Im Schuppen neben dem Haus habe ich zwei Petroleumlampen gefunden, die ich jetzt anzünde. Der Strom funktioniert schon lange nicht mehr. Das alte Bauernhaus muss schon vor Jahren verlassen worden sein, aber eigentlich ist es in erstaunlich gutem Zustand. Das Dach ist noch dicht, und niemand hat sich die Mühe gemacht, die Fenster einzuwerfen. Bis auf einen Tisch, drei Stühle und ein uraltes Sofa sind alle Einrichtungsgegenstände verschwunden. Auf dem Sofa liegt der Mann, der mir zum Schluss die Wahrheit gesagt hat.
Nun ja, das ist vielleicht nicht ganz richtig. Um ehrlich zu sein: Ich habe ihn so lange misshandelt, bis er mir erzählt hat, was ich wissen wollte. Ich bin nicht stolz darauf, aber es tut mir auch nicht leid. Er hat mir erzählt, wie alles angefangen hat. Und wie es schließlich außer Kontrolle geriet. Ich verstehe jetzt die Zusammenhänge, aber ich werde nicht viel damit anfangen können.
Der Mann auf dem Sofa hat mir noch etwas anderes anvertraut: dass sie nämlich keinesfalls die Absicht haben, mich am Leben zu lassen. Ihn übrigens auch nicht. Ich gehe zum Sofa und betrachte sein zerschlagenes Gesicht. Ich überprüfe seine Fesseln, richte ihn auf und gebe ihm etwas Wasser. Vielleicht brauche ich ihn noch.
Draußen ist es jetzt vollständig dunkel. Das Flackern der Öllampen taucht den Raum in ein unwirkliches Licht. Ich setze mich auf einen der wackeligen Stühle und richte den Lauf des Gewehres auf die Tür. Dann stelle ich die zwölf Patronen, die noch in der Schachtel waren, in einer Reihe vor mir auf dem Tisch auf. Zwölf ist eine gute Zahl. Zwölf Apostel, zwölf Geschworene, zwölf Schuss.
Sobald ich anfange, über die Ereignisse nachzudenken, kommt mir alles völlig irreal vor. Nichts von alledem, was passiert ist, hätte ich vor drei Wochen für möglich gehalten. Ich gehöre nicht hierher. Ich interessiere mich nicht für Verschwörungen, Schusswaffen oder erpresste Geständnisse. Normalerweise beschäftige ich mich mit kranken Gehirnen. Aber wenn ich es mir recht überlege, bin ich von diesem Thema auch jetzt gar nicht so weit entfernt.
Eins
D
er Mann wusste nicht, was er tun sollte. Sein Blick wanderte durch den kleinen Raum und blieb an seinem Spiegelbild haften. Er sah sich selbst vor einem großen Tisch sitzen und bemerkte den feinen Schweißfilm auf seinem Gesicht. Die Größe des Spiegels machte ihn noch nervöser. Vor sich auf dem Tisch sah er mehrere Gegenstände, die er kannte. Eine Kaffeemaschine, eine Karaffe mit Wasser, eine Filtertüte. Eine Dose mit gemahlenem Kaffee. Natürlich wusste er, was das war – und was wir von ihm wollten.
Er berührte die Kaffeemaschine vorsichtig mit zwei Fingern. Offenbar versuchte er, den Anfang zu finden. Er nahm aus der Dose etwas Kaffeepulver und schüttete es in den Wasserkrug. Beinahe zufrieden beobachtete er, wie das braune Pulver durch das Wasser rieselte und sich am Boden der Karaffe absetzte. Dann goss er das Wasser mit dem Pulver in den Trichter der Kaffeemaschine. Jetzt noch die Filtertüte. Er zog seine ausgestreckte Hand wieder zurück. Das poröse, braune Papier hatte sich fremd angefühlt, und ihm wurde klar, dass er nicht wusste, was er mit der Filtertüte anfangen sollte. Er war offensichtlich verwirrt, schüttelte den Kopf und steckte die Filtertüte versuchsweise in den Plastikfilter. Das sah zumindest richtig aus. Aber er wusste nicht, wie es weiterging. Ein Ausdruck von leiser Verzweiflung und Resignation lag auf seinem Gesicht, als er direkt in den Spiegel blickte.
Eine junge Frau hinter dem Spiegel fing diesen Blick auf und wich unwillkürlich etwas zurück. Sie saß mit einer Gruppe von weiteren zehn Studenten in einem Halbkreis, die den Mann im Nebenraum beobachteten. Nur auf seiner Seite war das große Glasfenster ein Spiegel.
»Was Sie gesehen haben, bezeichnet man als ideatorische Apraxie.«
Meine Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes war wie immer
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