Apollonia
größte Lump vom Lumpenball!
Da ist er ihr entgegengefallen und sie hat ihn nicht halten können, er stürzte einfach in das Haus hinein und sie weinte und schrie, und dann lag er auf dem Boden in seinen blutigen Gewändern wie nach einer ruhmreichen Schlacht, und sie wollte auf ihn einschlagen, da sanken ihre Arme in den Schoß.
So ist es dann nicht mehr lange gegangen mit meinem Großvater Klemens, und der Dapprechter Gustav hatte es schon immer gesagt: Das nimmt kein gutes Ende, und er hatte es kommen sehen.
Man hätte es sich schöner vorstellen können für ihn, aber so war es nun mal. Der Schnapsteufel hatte Scholmerbach wieder eine Seele geraubt und meinen Großvater Klemens zugrundegerichtet, und wäre der Schnaps nicht gewesen, er war nämlich ein guter und lustiger und frommer Mann, der niemals im Leben die Völker überfallen hätte und herrlich singen konnte.
Nur leider ein wenig faul.
Mein Sommer mit Jim endete so verschwommen, wie er angefangen hatte: Scholmerbach war eine immerwährende Trunkenheit in den Dorfnächten, und die Sommernooscht en Bloiteduft beherrschten uns allezeit.
Ich glaubte, dass Scholmerbach ein Paradies sei, und wenn man stirbt, dann könne man sich womöglich verschlechtern. Für meine Großmutter Apollonia aber schien das Paradies Besserung zu versprechen, und was ich im Gebetbuch gelesen hatte, hörte sich für ihren Fall nicht schlecht an. Der Herrgott versprach ihr die himmlische Glückseligkeit und seine überfließenden Heilströme und die Schätze eines überirdischen Königreiches, kurz und gut, der Herrgott versprach ihr Köln und Koblenz. Im Himmel musste meine Oma aber meinen Großvater wiedersehen, und das hatte sie nicht gewollt, und der Herrgott war ihr auch nicht durchweg angenehm, da er Klemens’ bester Kumpel war. Doch als die Zwetschgen am Baum reif und voll waren und blau und violett schimmerten und die Himbeeren rot in den Hecken saßen, da fing auch der Buchsbaum besonders stark an zu duften.
Da war es Zeit für Apollonia zu sterben, und da hatte sie auch gar keine Wahl mehr, und alle waren froh, dass man sie nicht fragen konnte. Sie hätte womöglich den Herrgott selber fortgeschickt, denn da konnte ja vielleicht noch ein Besserer kommen.
Meine Großmutter Apollonia starb an einem hellen Tag mit einem blitzblauen Himmel, und wir hatten das Fenster weit auf, und ich glaubte, die Seele entweichen zu sehen, wie sie über den Zimmerplatz fuhr und dann mit den Engeln hinaufstieg, um oben mit ihnen zu tanzen. Vielleicht wollte sie Klemens dort oben gleich noch einmal verdreschen. Vielleicht würde sie auch als allererstes dem Herrgott die Leviten lesen. Darauf musste er sich einrichten.
– Hol Buchsbaum, sagten die Leute. Denn der Buchsbaum umhüllte auf unserem Kirchhof die Verstorbenen, und wenn man ein Zweiglein davon brach, segneten wir damit die Toten und besprenkelten sie mit Weihwasser.
– Ach, dachte ich. Und dass es nicht nötig war.
Denn ich konnte Apollonia längst schon sehen, wie sie da oben angekommen war. Schon auf dem Weg zur Kirchhofshecke bin ich in die Hollen gerutscht und sah meine Oma, wie sie beim Herrgott saß und lamentierte und sich beschwerte und wie er gerade anfangen wollte, mit ihr den Lebensfilm anzusehen.
Da fiel es mir wie Schuppen vor die Augen.
Während ich mich so sehr mühte, in einem fleckigen Stoffbuch die Teile ihres Lebens zusammenzuflicken und zu rätseln und zu suchen, hatte also der Herrgott schon einen Film daraus gemacht. Wenn ich es auf der Erde ganz verkehrt machte, dann konnte ich womöglich den Herrgott bitten, mir vorzusagen oder einen Gedanken zu schicken, der mir weiterhalf. Denn Apollonia hatte nie gerne erzählt und fand ihr Leben einen Scheißdreck, während es für mich und den Herrgott so interessant und bedeutend war, dass wir es aufheben wollten, Tag für Tag.
Meine Großmutter Apollonia liegt mit meinem Großvater Klemens in Scholmerbach unter demselben Grabstein begraben.
Sie ist mir seither noch manches Mal erschienen im Traum oder Halbschlaf. Meistens sagt sie dann stumm, ich soll keine Angst haben, ich werde am Schuljahresende doch noch versetzt, mit knapper Not. Oder sie sagt, ich hatte Glück, dass ich meinem Vater nur eine Beule in das Auto gefahren habe, denn ich hätte mich zwischen Linnen und Wennerode beinahe überschlagen, wenn nicht alle Engel am Himmelszelt auf mich aufgepasst hätten. Ich dürfte bald eine Reise machen, nach Frankreich, wo es besonders schön sei, mit
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