Apollonia
Ich bringe nur Ranunkeln mit etwas Wiesenkraut, für meine Großmutter Apollonia.
Ich will sehen, ob es wahr ist, was sie sagen, dass über meiner Großmutter das Grab eingestürzt ist, dort auf dem Kirchhof von Scholmerbach, wo meine krumme und fingerlose und buckelige Verwandtschaft liegt.
In der siebten Reihe am Kieselweg nahe am Brunnen finde ich meine Großmutter zwischen Müllerkolls Rosa und Schamps Eggenseppel unter ihrem Basaltstein liegen. Der Buchsbaum und die Dornschlehen umwachsen sie alle und hüllen sie in ihren Geruch, wie sie da liegen, so säuberlich und bescheiden, ein jeder eingefasst in einen Kranz aus Steinen.
Ja, es ist wahr, ich stehe davor, das Grab ist eingefallen, es öffnet sich vor meinen Füßen in einer sauberen Rautenform, ganz schwarz, aber nicht tief, mein Großvater liegt friedlich daneben unter seinem ordentlichen Hügel und schläft und schläft den Rausch des Ungerechten.
Ich weiß nicht, was ich sagen will mit meinen Ranunkeln.
Im eingesunkenen Grab liegen die Wurzeln und die Blumen kreuz und quer zwischen Erdklumpen, wahrscheinlich hat sie sich da unten herumgeworfen und umgedreht noch hundertmal. Meine Großmutter Apollonia hat immer gesagt, sie will um keinen Preis mit meinem Großvater Klemens unter demselben Grabstein liegen. Und dann haben sie sie trotzdem neben ihm begraben.
Das konnte nicht gutgehen.
Ich muss ein wenig für sie beten:
– Lieber Gott, bitte nimm meine ruhelose Großmutter zu dir in den Himmel. Sie kann nicht hierbleiben, sie findet keinen Frieden und treibt sich womöglich noch hier herum.
Ich glaubte, Apollonia »Nein« sagen zu hören. Meine Großmutter sagte als Erstes immer »Nein«, und als Zweites sagte sie, wir sollten ihr alle den Buckel herunterrutschen, und als Drittes sagte sie, sie möchte auf gar keinen Fall mit Klemens unter demselben Grabstein begraben werden.
Ich habe den Kirchhof immer gerngehabt.
Er ist wie immer, der Kieselsteinbrunnen, der Süßkirschenbaum, das Engelgrab der kleinen Ute, deren Blut so weiß war, dass sie daran sterben musste. Ich verirre mich auf unserem kleinen Friedhof, ich war schon lange nicht mehr hier, es scheint, als seien uralte Leute aufgestanden und hätten sich woandershin gelegt, ganze Familienzweige sind beieinander, hier die Schlossens, und dort die Willemichels und da die Paulinchens. Dabei haben sie sich unentwegt bewegt, hin und her, mal hatte ein Willemichel eine Müllerkolls geheiratet, mal ist ein Schlossens fortgegangen und nie mehr zurückgekehrt, und mal hat sich ein Paulinchens unter die Müllerkolls gemischt, und die sind nach Linnen gezogen oder nach Ellingen.
Ich muss auch einmal hier liegen, jetzt weiß ich es wieder. Es kann nicht anders sein, als dass mein Grab einmal unter diesem Buchsbaum sein wird, bei meiner Großmutter und bei Tante Lina und Tante Toni, bei Onkel Gustav und dem losledigen Albert. Wahrscheinlich liege ich bei den Losledigen. Wenn nichts geschieht bis dahin. Einiges an Lebensjahren steht ja noch in meinem Auftragsbuch.
Ranunkel und Wiesenkraut für meine Großmutter und meinen Großvater, die hier schon lange ruhen, schon fünfunddreißig Jahre lang.
Ich lege die Ranunkeln zu ihren Häuptern, an den Grabstein, damit sich der Wiesenklee um ihren Namen rankt, ich möchte was tun für Apollonia. Für den Großvater ist gesorgt, der hat sowieso die ewige Ruhe, er wird in den Himmel hineingegangen sein, einfach so, er hat vielleicht mit Petrus gewürfelt, ist aber bestimmt da oben irgendwo. Apollonia dagegen ist nicht in den Himmel gegangen, weil sie ja dort hätte Großvater oder den Herrgott treffen müssen, und weder Großvater noch Gott hat sie je verziehen.
Am Grab meiner Großmutter vergesse ich, was aus mir geworden ist, es ist sofort verschwunden, gerade so, als sei ich fünf Jahre alt. Was früher war, sehe ich deutlicher als das, was heute ist, und es scheint mir auch bunter. Selbst meine Sprache fällt zurück, sobald ich hier durch die Straßen gehe, ich rede von Müllerkolls und Blutwurst und Himmelfahrt, obwohl auch hier niemand mehr von Blutwurst und Himmelfahrt redet. Ich treibe mich auf dem Kirchhof herum und suche dann den Wald mit dem Hexenhäuschen, den Holunder- und Schafgarbenbüschen und den zerstrüppten Dornschlehen, ich gehe durch den Kappesgarten, ich suche das alte Wasserhäuschen, den Tröpfelborn und den Eulenbirnbaum.
Aber den Eulenbirnbaum hat nie jemand gefunden.
Ich bin so. Ich laufe durch die Dorfstraßen und fahre mit
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