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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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16:04

    Meine alte Kunstprofessorin, die schlimmste, menschlich unangenehmste Person, die mir in meinem Leben begegnet ist, hat nun auch ihren von kleinen Navigationssackgassen begleiteten, gut gelungenen Internetauftritt. Erst freue ich mich am großzügig über die Seite verteilten künstlertypischen Nonsens – “Geht es darum, ein Material (Farbe) zu nobilitieren oder es als das zur Geltung zu bringen, was es eigentlich ist?” – dann überfällt Traurigkeit mich. Zwanzig Jahre sind vergangen seit unserer letzten Begegnung, und sie hat ihre Zeit mit komplett sinnlosem Quatsch vertan, genau wie ich.

    Einer ihrer letzten Sätze, an den ich mich erinnere, geäußert auf einer der letzten Klassenbesprechungen: “Jesus hat die Welt erlöst, das ist bewiesen.” Auf meine Frage “Wie?” erhielt ich nie eine Antwort.

    9.11. 2012 21:51

    Ein Schatten huscht über die Terrasse im fünften Stock. Als ich das Licht lösche, um besser sehen zu können, verschwindet die Maus in der Öffnung für das Regenwasser.

    12.11. 2012 21:45

    Aufstehen, schlafen, Gymnastik, kalt duschen, frühstücken, lesen, schlafen. Vögel füttern, Versuch, nicht zu schlafen, schlafen, C. anrufen. Gespräch über den Tod, über das Weinen, über das Sterben im Alter, wenn man der Letzte ist und keiner mehr da, der eine Erinnerung hat an den Jungen, derfünfzehn Meter über dem Erdboden einhändig im Baum hängt, an das Mädchen, das seinen Schulranzen auf einen fahrenden Laster wirft, das Kind unterm Sofa, das, während unbekannte Stiefel durch die Wohnung poltern, mit der flachen Hand zentimeterdicken Staub zusammenschiebt, zitternd.

    14.11. 2012 12:30

    Die Asche kriegen Sie unter Umständen ausgehändigt, sagt Dr. Vier, aber Sie müssen einen Bestattungsnachweis erbringen, so wie in The Big Lebowski geht es nicht.

Vierunddreißig : 

    19.11. 2012 22:17

    Themenwoche Sterben auf der ARD. Komplett Enthirnte wie Margot Käßmann versuchen, ein freies Leben gelebt habenden Menschen das Recht auf Freiheit im Tod zu bestreiten. Die Position der Vernunft wie immer dünn besetzt. Ein Mann, der seine alzheimerkranke Frau beim Suizid unterstützte, sitzt neben einer Zumutung namens Kapuzinermönch Bruder Paulus, dem sein ihm das Gesicht verwüstet habender zweistelliger IQ befiehlt, eine Stunde lang mit zusammengekniffenen Augen angestrengtes Nachdenken simulierend in die Runde zu schauen und seinen Vorredner anzublaffen, warum er seiner Frau denn nicht gleich die Pulsadern aufgeschnitten habe. Lang lebe Berlin-Mitte.

    Nicht geladen wie immer einer, der das Naheliegende erklärt, nämlich daß in einem zivilisierten Staat wie Deutschland einem sterbewilligen Volljährigen in jeder Apotheke ein Medikamentenpäckchen aus 2 Gramm Thiopental und 20 mg Pancuronium ohne ärztliche Untersuchung, ohne bürokratische Hürden und vor allem ohne Psychologengespräch – als sei ein Erwachsener, der sterben will, ein quasi Verrückter, dessen Geist und Wille der Begutachtung bedürfe – jederzeit zur Verfügung stehen muß.

    19.11. 2012 22:45

    An welche angesprochenen Medikamente man übrigens weder mit Rezept noch sonst legal rankommt. Wer es darauf anlegt, versucht, sich beizeiten mit einem Tierarzt gutzustellen (mühsam) oder bricht gleich in die Praxis ein. Dort heißen die Medikamente Eutha 77 bzw. mittlerweile Esconarkon, kleinste Packungsgröße 100 ml, damit lassen sich größere Säugetiere ohne Probleme einschläfern.Thiopental kann man sich selbst spritzen (Narkose), Pancuronium muß von einer zweiten Person zugeführt werden (Atemstillstand).

    19.11. 2012 22:49

    In meinem Freundes- und Bekanntenkreis damals, als der Gedanke auftauchte, an Leuten, die mich ins Jenseits befördern wollten, zum Glück sofort kein Mangel, an erster Stelle meine Mutter. Klar.

    19.11. 2012 22:53

    Zeugnisverleihung und Abi-Ball vor dreißig Jahren: Ich wollte eigentlich überhaupt nicht hin, und wenn dann auch nur in meinem maximal komplettkaputten Lieblings-T-Shirt, und auf keinen Fall wollte ich meine Eltern dabei haben (Spätpubertät), ganzer Tag Diskussion, schließlich sagte meine Mutter den schönen Satz: Ich hab dich da reingebracht, ich hol dich da auch wieder raus. Da ließ sich nicht viel gegen sagen.

    19.11. 2012 23:01

    Wobei an die Medikamente, wie gesagt, gar nicht ranzukommen war. An überhaupt nichts Sicheres. Nichts Einfaches, nichts Hundertprozentiges. Erschießen ist in 76 bis 92 Prozent der Fälle tödlich, bei Schüssen in den Kopf

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