Arbeit und Struktur - Der Blog
Gleitsichtbrillen hindurch, sein Blick suchte niemanden. Manchmal riß er beide Arme hoch, wenn ihm ein besonderer Coup des Wagenzusammenschiebens gelungen war. Irgendwann sah ich ihn nicht mehr.
Neben dem Dauergrinsen, das meinem Körper signalisiert, daß in meinem Leben alles nach Plan läuft, ist die Beckerfaust nun meine Standardgeste, wenn mir wieder ein besonderer Coup beim Sätzezusammenschieben gelungen ist.
5.9. 2012 8:30
Linke Seite trotz Rückbildung des Ödems immer irgendwie wie verschwunden wirkend, der linke Fuß ist oft taub und eiert beim Gehen, im Bett weiß ich nicht, ob der Arm, den ich streichle, C. gehört oder mir.
5.9. 2012 10:04
Neue Chemo nach dem PCV-Schema, das vor der Entdeckung des Temozolomids gebräuchlich war und dessen Versagen an mir für die Krankenkasse noch einmal erwiesen werden soll, um Genehmigung und Kostenübernahme für Avastin zu erhalten.
Heute eine Spritze Vincristin plus fünf Kapseln CCNU, Procarbazin folgt nächste Woche, kotzen bei Bedarf.
Befund: Neu nachweisbare temporale Schrankenstörung auch in der vorbekannten kortikalen Strukturstörung links temporoparietal, so daß (neben im Verlauf weitestgehend konstanten niedergradigen Tumoranteilen) nun auch dort höhergradiges Tumorgewebe dringlich zu verdächtigen ist. Neu angrenzende Leptomeningen akzentuiert, verdächtig auf beginnende Infiltrationen DD Aussaat.
9.9. 2012 17:30
Im See im Nichtschwimmerbereich, C. am Ufer. Hinterher alles zu laut, zu viele Leute. Unter meine Jacke und drei Decken versteckt liege ich auf irgendwessen Oberschenkeln.
12.9. 2012 18:37
Und Himmel, könnt ihr euch das mühevoll zusammenrecherchierte Epitheton für den krebskranken Schriftsteller mal in den verblödeten Arsch stecken, Freunde der Henri-Nannen-Behindertenschule? Ich nenn euch doch auch nicht dauernd behindert, nur weil ihr es seid.
15.9. 2012 6:56
Wie neun Jahre lang jeden Tag, während ich das Gymnasium besuchte, weckt mich der Wecker – es ist noch derselbe – um 6 Uhr 50. Dann trete ich barfuß auf die Terrasse, greife das verzinkte Geländer und beginne mit Blick über Berlin meine mittlerweile ans Lächerliche grenzende Gymnastik.
Hätte ich als Kind auf meinem Schulweg am Friedrichsgaber Weg einen alten Mann auf seinem Balkon so herumturnen sehen, ich hätte Ekel empfunden.
Hier gibt es zum Glück keine Schulkinder, ich muß mich nicht schämen. Ich schäme mich trotzdem. Das von der Herde getrennte, sich versteckende, seine Verletzungen zu verbergen suchende Tier; als wäre der Leopard mit ein paar Liegestützen, Kniebeugen und Dehnübungen zu täuschen.
Zwei Krähen streichen von Süd kommend über mich, meine Terrasse und das hinter mir liegende Dach in den dunkleren Himmel. Links das älteste, unvergeßlich schönste Schauspiel der menschenbewohnten Welt: Seine Klauen durch die Wolken sind geschlagen, er steiget auf mit großer Kraft.
16.9. 2012 16:30
Baden im morgens baumgrünen, nachmittags blaugrünen Plötzensee. Fast keine Leute mehr. Gerutscht im Wechsel mit einem fünfjährigen Mädchen, das beim Ersteigen der Aluleiter weniger Probleme hat als ich. Vier Meter Schwerelosigkeit, Wasser in der Nase und ein Spaß, der hauptsächlich die Erinnerung an Spaß ist.
18.9. 2012 2:03
Traum: In einem Dresdner Museum führe ich eine Gruppe meiner Freunde vor zwei Werke, über die sie ein vergleichendes Urteil abgeben sollen. Das eine ist eine Ölskizze mit schrägem Lichteinfall auf eine stehende Figur, schon an der Palette relativ leicht als Adolph von Menzel erkennbar, das andere eine naiv zusammengemanschte Tonskulptur eines kleinen, pummeligen Häuschens mit fröhlich grün glasiertem Garten drumrum. Niemand wagt sich hinaus in die Möglichkeit eines Fehlurteils. Nachdem die Mehrheit meiner Freunde dem Ölbild den Vorzug gibt, erkläre ich auftrumpfend die Schwächen des viel zu routiniert gemachten Menzels mit seiner fehlerhaften Komposition, während die Haus-mit-Garten-Skulptur Uwe Tellkamps ein Meisterwerk sei.
19.9. 2012 10:43
Zweieinhalb Meter von meinem Arbeitstisch entfernt trapst und schlittert ein Spatz über das Laminat. Den Weg zurück durch das Labyrinth zweier Fensterfronten ins Freie findet er leicht. Wie befohlen schütte ich die Frühstückskrümel auf die Terrasse.
20.9. 2012 8:30
Jeden Morgen ist der Kanal von Salomon van Ruysdael gemalt.
23.9. 2012 8:45
Traum: In einem nordkoreanischen Lager wird ein Mann, der nur noch aus Haut und Knochen
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